Kurzgeschichten
Joachim und sein Schatten
Kennen Sie das: Sie sind völlig allein in der Wohnung, wirklich kein Lebewesen im Umkreis von mehreren Dutzend Metern. Und trotzdem fühlen Sie sich nicht allein. Sie haben das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch wann immer Sie blitzschnell über die Schultern zurück gucken - nichts ist zu sehen. Sie lesen weiter an Ihrem Buch oder in der Zeitung und wieder sind Sie sicher, nicht allein zu sein. Zack, ein Blick zurück und … nichts.
Wir haben dieses Gefühl ab und zu. Möglicherweise eher selten, oder gar nicht. Vielleicht auch nur dann, wenn wir ein schlechtes Gewissen haben weil wir etwas tun, das man nicht sollte. Doch wie wäre es, wenn das Gefühl, - nein: die Gewissheit - dass man beobachtet wird, Sie jeden Tag und auf Schritt und Tritt begleitet?
Joachim könnte Ihnen ein Lied davon singen. Begonnen hatte das Ganze in der Pubertät. Seine Eltern wurden geschieden, als Joachim in die 1. Klasse ging. Er war ein Einzelkind und seine Mutter musste wieder ins Berufsleben. Darum war Joachim sehr viel allein. In der Schule kam er gut mit und hatte etliche Freizeit. Die verbrachte er sehr viel mit Lesen. Irgendwann einmal fand er Zugang zur örtlichen Bibliothek und dort war er dann regelmässig zu Gast. Sei es, dass er ganze Nachmittage dort verbrachte oder auch nur kurz vorbei schaute, um ein neues Buch in Ausleihe zu nehmen. Die vier oder fünf Frauen, die dort Bücher ausliehen, kannten Joachim schon recht bald. Er war ein gerne gesehener Gast. Mit seiner stillen, höflichen, freundlichen und unauffälligen Art schmeichelte er sich eher ungewollt bei den Damen ein. So gab es ab zu auch einmal etwas Süsses für ihn.
Anfangs hatte man Joachim noch in die alters-adäquate Leseecke gedrängt und ihm den Zutritt zur Erwachsenenwelt verwehrt. Doch in etlichen Gesprächen mit verblüffend hohem Niveau zeigte er den Damen, dass bei ihm ein wacher Geist in jungem Körper schlummerte. Mit der Zeit war es daher ein gewohntes Bild, Joachim irgendwo in der Bibliothek anzutreffen. Einmal war er sogar fast eine halbe Nacht geblieben. Er hatte es sich in einer entfernten Ecke gemütlich gemacht und das faszinierende Buch eines neuen Schriftstellers entdeckt. Er war so in die Geschichte versunken, dass er rund um ihn herum nichts mehr wahrnahm. Dann musste er auf die Toilette und dabei bemerkte er, dass er alleine war und alle Lichter gelöscht waren. Einzig die Strassenlaterne in seiner Ecke hatte ihm die ganze Zeit Licht genug gespendet, damit er lesen konnte. Also machte er wieder Licht und das bemerkte dann die Polizeipatrouille unten auf der Strasse, die ihn aus seiner ungewollten Lage befreite.
War es dieses Erlebnis? Oder das spannende Buch? Oder beides zusammen? Auf alle Fälle so in dieser Zeit bemerkte Joachim erstmals dieses komische Gefühl. Das Gefühl, einzig in einem Zimmer, aber dort nicht allein zu sein. Anfangs schenkte Joachim diesem Empfinden kaum grosse Beachtung. Er vermochte sich auch zeitlebens nie zu erinnern, bei welcher Gelegenheit das Phänomen erstmals auftrat. Auch wenn dieses Leben nicht sehr lange dauern sollte. Und man befragte Joachim später öfters zu diesem Gefühl. Nicht nur in diversen Kliniken, sondern einmal sogar im Fernsehen.
Auf alle Fälle versuchte Joachim, sich an das mulmige Empfinden zu gewöhnen. Anfangs schreckte er regelmässig auf, wenn ihm dieses Gefühl auf die Schulter hockte. Mit der Zeit war es nur noch ein Schaudern und so um die Volljährigkeit merkte er manchmal erst hinterher, dass dieses Gefühl wieder da gewesen war. Gegen Mitte der obligatorischen Schulzeit wurde ihm dieser „Begleiter“ manchmal richtig vertraut, dann sprach er mit dem Schatten, wie er ihn nannte. Das war die Zeit, als seine Mutter ab und zu ausging und sich auch wieder mit Männern traf. Dann war er manchmal sogar froh um den Schatten. Diesem konnte er all seine Gedanken anvertrauen, ohne dass später die ganze Nachbarschaft davon wusste.
Es kam auch vor, dass ihn der Schatten überall hin begleitete. Manchmal war er sogar so vorwitzig, dass er sich bemerkbar machte, auch wenn Joachim nicht alleine war. Der Schatten schien ihn zu mögen. Seinem Lehrer fiel dann mit der Zeit auf, dass Joachim in seiner Entwicklung zurück blieb. Hochintelligent in schulischen Leistungen, aber dann wieder kindisch in seinem Verhalten. Und dann diese dauernden Selbstgespräche. Aber nicht nur das: Manchmal ein undefiniertes und plötzliches Kichern mitten in einer Schulstunde, oder im Supermarkt. Irgendwann musste Joachim zusammen mit seiner Mutter zum Arzt. Der befragte ihn ausgiebig und in alle Richtungen. Später musste er noch ein paar Mal alleine dort hin. Er durfte Aufsätze schreiben, Zeichnungen fertigen oder musste irgendeine Kritzelei interpretieren. Anfänglich nahm er die Sache noch ernst, mit der Zeit brachte er (natürlich zusammen mit seinem Schatten) seine eigenen Spielregeln mit ein. So erklärte er bei einem schön gezeichneten Bauernhaus, überhaupt nichts Erkennbares zu sehen. Handkerum schilderte Joachim in blumigen Worten, eine traumhafte Landschaft mit Wiesen, Bach und Wald zu erkennen, wo nur ein Handvoll Striche quer über ein Blatt gezogen waren. Und mit solchen Spielen hielt Joachim sich nicht zurück. Sein Schatten ermunterte in laufend zu neuen, noch derberen Spässen
Die lange Serie von Sitzungen wurde dann relativ abrupt beendet, weil der ihn betreuende Arzt ziemlich plötzlich die Berufstätigkeit aufgab. Man liess die Sitzungen einfach entfallen. Wahrscheinlich war niemand mehr bereit, die Kosten für diese Behandlung zu übernehmen.
Joachim beendete die Schulzeit mit gutem Abschluss. Seine Mutter hätte gerne gehabt, wenn er irgendwie noch weiterhin zu Schule ging. Arzt oder Anwalt wäre für ihn vorbestimmt, sagte sie immer. Schon der schönen, feingliedrigen Finger wegen. Also ging Joachim weiterhin zur Schule. Die Freizeit war nun beschränkter, aber sein Freund, der Schatten blieb.
Mit den Halbwüchsigen kam Joachim nicht richtig zu recht. Er war immer mehr der Aussenseiter. Seine schulischen Leistungen liessen nach und Ende des dritten Semesters stand der Schul-Abbruch fest. Man empfahl ihm eine Privatschule, um auch die persönliche Reife zu fördern. Denn nach wie vor waren seine Leistungen sehr gut. Doch aus finanziellen Gründen kam eine Privatschule nicht in Frage. Zwar hatte seine Mutter in der Zwischenzeit wieder geheiratet. Doch trat dadurch keine Verbesserung der teilweise recht angespannten finanziellen Lage ein. Also beschloss man, dass Joachim eine Lehre in einem Betrieb aufnehmen sollte. Mangels handwerklichem Geschick und konkreten Interessen war es dann eine Ausbildung zum Kaufmann, für die man sich entschied. Ein Lehrbetrieb war schnell gefunden und so begann für Joachim ein neuer Lebensabschnitt.
Selbstredend hatte der Schatten all die Veränderungen auch mitgemacht. Vernünftigerweise hielt er sich in dieser turbulenten Zeit etwas im Hintergrund. Doch sobald sich die Situation im Lehrbetrieb eingependelt hatte, war er wieder der Kumpel aus alten Tagen: Fast jederzeit präsent und immerzu mit praktischen Ideen zu allerlei Spässen aufgelegt. Joachim hatte in der Zwischenzeit gelernt, den Schatten quasi auf Abruf herbeizaubern zu können.
Im Lehrbetrieb stellte sich Joachim sehr gut an. Seine Mutter war glücklich und überzeugt, dass ihr Sohn nun den Anschluss schaffen würde. Doch auch hier wurde mit der Zeit die persönliche Unreife zum Problem, weil Reklamationen eintrafen. Es war unmöglich mit anzusehen, wie Joachim beispielsweise am Schalter einen Kunden bediente und sich dann quasi in Selbstgesprächen (den Schatten konnten halt die andern nicht sehen) erging und den Kunden links liegen liess. Eine interne Versetzung ins Archiv brachte auch nicht die Lösung, sondern ewige Diskussionen und Störungen in der Belegschaft. Würden Sie es schätzen, jeden noch so selbstverständlichen Auftrag einem Lehrling mehrmals auseinanderzusetzen und dann zuzugucken, wie er in Selbstgesprächen jedes Wort einem luftleeren Raum erklärt? Man sah sich darum genötigt, zu handeln. Schliesslich setzten sich Behörden, Lehrbetrieb und die Erziehungsberechtigten an einen Tisch und man beschloss, das Lehrverhältnis in gegenseitigem Einverständnis noch vor der Hälfte der Zeit aufzulösen.
Joachims Mutter war sehr, sehr enttäuscht. Sie wusste einfach nicht mehr weiter. Der Stiefvater liess den Jüngling deutlich spüren, dass er sich nicht um ihn kümmern werde. Joachim sass nun täglich zu Hause und das strapazierte das Verhältnis um alle drei Personen zusehends. Joachims Mutter wurde krank, sein Stiefvater beschuldigte ihn geradeheraus als Ursache und der Schatten, ja der Schatten schien den Charakter zu ändern. Er stellte sich zusehends gegen Joachim.
Eine Veränderung trat dann ein, als der behandelnde Arzt der Mutter sich einschaltete und die Ursache des Nervenleidens seiner Patientin ebenfalls bei der schwierigen Familiensituation ortete. So kam Joachim in eine geschlossene Anstalt. Natürlich nahm er seinen Schatten mit. In dieser Klinik erfuhr Joachim wieder die so lange vermisste Aufmerksamkeit. Das tat dem gestörten Verhältnis zu seinem Schatten gut. Joachim konnte ihm so zeigen, dass er nicht auf ihn angewiesen war. Darum verwundert es wohl niemanden, dass man Joachim schon bald aus dem stationären Aufenthalt in eine offene Behandlung entliess. Es gab kaum mehr Anzeichen von gestörter Psyche oder gespaltener Persönlichkeit. Medikamente erlaubten es zudem, die Gemütsschwankungen zu glätten. Fortan wohnte Joachim wieder zu Hause. Weil seine Mutter in der Zwischenzeit halbtags arbeitete, konnte man sich etwas aus dem Wege gehen.
Joachim entfaltete kein Interesse an Hobbies. Alle Vorschläge lehnte er ab. Teils weil ihm der Schatten dazu riet, zum Teil auch aus Bequemlichkeit. Die wenigen Sachen, die ihm anfänglich noch zusagten, verschlampte er mit der Zeit und darum sass er manchmal tagelang zu Hause herum. Irgendwann besann sich seine Mutter aber auf die seinerzeitige Freude an der Bibliothek und das war eine gute Idee. Joachim ging wieder regelmässig in der Bücherei.
Anders als früher interessierte ihn aber nun die Erwachsenenabteilung nicht mehr. Er konnte sich stundenlang im Comics-Ecken vergnügen oder Lesebücher für Anfänger mehrmals durchackern. Anders als früher war er auch nicht mehr der stille, eifrige Leser, den man fast nicht bemerkte. Einerseits las er die Bücher laut, weil sein Schatten scheinbar Analphabet war. Andererseits diskutierte er gewisse Passagen lautstark mit sich selber. Eines Tages wurde ihm daher eröffnet, dass er in der Bibliothek nicht mehr erwünscht sei; man erteilte ihm Hausverbot. Das traf Joachim schwer. Seine Mutter wurde wieder krank und diesmal ging es nur fünf Tage, bis man Joachim wieder in die geschlossene Anstalt brachte. Von dort wurde er dann innert etwa 10 Tagen in eine Spezialklinik verlegt.
Die dort angewandte Behandlung war für Joachim und seine ihn betreuenden Ärzte und Pfleger sehr schwierig. Erstmals, solange sich Joachim erinnern konnte, erkannte jemand Aussenstehendes seinen Schatten. Die Behandlung kam einer sehr, sehr schweren Operation gleich: Man musste die beiden „Körper“ trennen. Natürlich hielten Joachim und sein Schatten fest zusammen. Nach und nach gelang es aber den Ärzten, Zwietracht zu säen. Joachim empfand den Schatten mit der Zeit als nicht zu ihm gehörend. Das steigerte sich allmählich in Ekel gegenüber dem sich immer stärker einmischenden Fremdling und gipfelte nach ein paar Monaten in tiefen Hass. Für Joachim war klar, dass dieser Schatten, dieser anfänglich gute Kumpel, sein ewig treuer Begleiter, sein Tröster, sein Verführer, teilweise sogar sein ganzer Lebensinhalt, sein einzigartiger Schatten schuld hatte an allem, was in seinem jungen Leben schief gelaufen war. Trotz intensiven medikamentösen und allen therapeutischen Massnahmen gelang es der vereinigten Ärzteschaft nicht, diesen Verräter von Joachim zu trennen. Nach stundenlanger Abwesenheit während den langen Behandlungsphasen tauchte der Kerl des Nachts einfach auf. Hämisch grinsend zeigte er Joachim, dass er nicht daran dachte, aus seinem Leben zu verschwinden. Dauernd sang er die drei Worte „mitgegangen – mitgefangen – mitgehangen“.
Manchmal gelang es Joachim schon, den Schatten über längere Zeit fern zu halten. Dann wiederum tauchte der impertinente Dämon mitten in einer Erfolgsphase wieder auf und machte ihn vor allen Ärzten lächerlich. Zeitweilig konnte der Schatten schon seine Gedanken lesen. Das verwundert nicht besonders, wenn man die lange gemeinsame Zeit der beiden beachtet. Joachim wusste, er musste den dauernd auf seiner Schulter sitzenden Schatten selber beseitigen, weil er sich nicht anderweitig entfernen liess.
Irgendwann hatte er die rettende Idee und schon wenige Tage später traf Joachim die nötigen Vorbereitungen. In dieser Nacht sollte sein quälender Begleiter nur auftauchen. Joachim war vorbereitet und in seinem Unterbewusstsein ruhte sein Plan. Joachim hoffte, dass der Schatten nicht dorthin gelangen konnte und er ihn daher völlig überraschen konnte. Lange lag Joachim wach und erst nach etwa zwei Stunden fiel er in einen unruhigen Schlaf. Wie schon fast erhofft, weckte ihn kurze Zeit später sein ehemals treuer Freund und Begleiter. Neckisch gab er Joachim zu verstehen, dass er ihn jederzeit und überall finden und tyrannisieren könnte. Langsam schob Joachim seine rechte Hand unters Kopfkissen, umfasste den vorbereiteten Griff und stiess mit einem lauten Schrei zu. Einmal, zweimal, dreimal immer wieder stiess er das scharfe Küchenmesser über die Schulter in den Schatten. Tief drang die Schneide ein. Und immer wieder stiess Joachim zu. Auch als ihm bereits Blut aus dem Mund rann, weil seine Lunge völlig zerfetzt war, gab Joachim nicht auf. Das musste nun zu Ende gebracht werden, eine zweite Chance gab es nicht. Als die herbeigeeilte Nachtwache bei ihm eintraf, war keine Rettung mehr möglich. Joachim verstarb noch in seinem Zimmer, aber mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte seinen Schatten besiegt, er hatte es ihm gezeigt. Er war nun frei. So frei, wie noch nie in seinem Leben.
15.04.2006 - 18.04.2020 / Jürg Frei
