Kurzgeschichten
Kurt und seine Bohnen
Kurt genoss sein Leben in vollen Zügen. Das behauptete er zumindest bei jeder Anfrage. Er ging schon gegen vierzig und war ledig. Kurt arbeitete als Magaziner in einer grossen Speditionsfirma. Dort war er zuständig für die Bereitstellung der bestellten Waren. Die Frühschicht liebte er besonders. Das gab ihm dann jeweils die Möglichkeit, nach dem frühen Feierabend noch etwas vom Tag zu geniessen. Er ging öfters und sehr gerne in den Zoo. Die Tiere sind wie ich, meinte er dann allenthalben, zufrieden und genügsam mit dem, was ihnen das Leben bietet. Ein Dach über dem Kopf, regelmässig zu futtern, was willst du mehr?
Dank seiner steten, konstanten Lebensweise war Kurt in der Spedition auch schon öfters für besondere Aufgaben herangezogen worden. Während seine Kollegen bei Überstunden öfters mit Ausflüchten kamen (meine Frau reklamiert schon; ich habe noch ein Termin beim Klassenlehrer meines Jungen; etc.), war auf Kurt immer Verlass. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, er suche die Abwechslung genau in der unregelmässigen Arbeitszeit. Wenn jemand Abenteuerferien macht oder ein verrücktes Hobby hat – ich meine an einem Gummiseil angebunden von Brücken hüpfen – um etwas den Kick zu verspüren, so war für Kurt die unregelmässige Arbeitszeit schon fast so was wie das Äusserste an Abenteuer, das er sich vorstellen konnte.
So Kurts gibt’s überall auf der Welt; Sie kennen sicher auch einige davon. Es sind Menschen, mit denen man sich auf einer Party unterhält. Aber schon beim nächsten Gespräch hat man wieder vergessen, worüber und mit wem man soeben diskutiert hat. Oder man sitzt im Zug jemandem eine ganze Reise lang gegenüber, schweigt sich an und am nächsten Tag ist man nicht mehr ganz sicher, wie viele Leute im gleichen Abteil sassen.
In der Freizeit – also wenn er weder an der Arbeit noch im Zoo war – widmete sich Kurt seinem einzigen grossen Hobby: Er züchtete irgendwelche Pflanzen. Deswegen wurde Kurt von vielen seinen Kollegen mitleidig belächelt. Der Ursprung dieser Beschäftigung war vor vielen Jahren einmal ein sonderbares kleines Paket in der Spedition gewesen. Das Paket war an eine nicht existierende Firma an dieser Adresse angeschrieben gewesen. Der Absender war nicht mehr lesbar, wahrscheinlich Wasserspuren oder so hatten die Tinte verschmiert. Soviel war noch zu sehen gewesen, dass es mit Handschrift geschrieben und kein Stempel war. So lag das Paket dann die übliche Frist im Lager für unzustellbare oder nicht bezahlte Artikel. Danach wurde es unter notarieller Aufsicht geöffnet. Manchmal kam im Paket ein Hinweis auf Absender oder Empfänger zum Vorschein, dann wurde natürlich die Kontaktnahme versucht. Gelang auch das nicht, ging zweimal jährlich eine Versteigerung im Werkhof vor sich. Na ja, nicht jedes dieser Sonderpakete gelangte auch wirklich in die Versteigerung. Manchmal verschwand dann doch irgend etwas oder der Inhalt war wirklich wertlos, so dass man sich zur Entsorgung beschloss. Genau diesen Sonderweg ging auch das kleine Paket. Dessen Inhalt waren ein paar in Watte verpackte Bohnen. Sie waren relativ gross und sehr leicht. Man führte das damals auf den Wassermangel zurück und war sich sicher, dass das Grünzeug den langen Aufenthalt in der Firma nicht überlebt hatte. Kurz vor der Vernichtung erfuhr Kurt von dieser Warensendung und niemand hatte etwas dagegen, dass er sich des Inhalts annahm.
Das war dann wirklich der plötzliche Anfang von Kurts grüner Ader gewesen. Zu Hause pflegte Kurt die paar Bohnen. Wirklich, wie einen Patienten behandelte er jedes dieser blau-grauen Schrumpelhäufchens. Zuerst hielt Kurt sie an offener Luft, aber im Dunkel des Kellers. Nach ein paar Tagen holte er sie jeweils abends für ein paar Minuten ins Helle und besprühte sie alle zwei Tage mit lauwarmem Wasser. Nach etwa drei Wochen beschloss Kurt, die Bohnen tagsüber nicht mehr im Keller zu halten und nebst täglichem Wasser auch noch etwas Dünger beizugeben. Wenn man die Bohnen nun in die Hand nahm, waren sie deutlich schwerer, als seinerzeit bei der Öffnung des Paketes. Kurt war überzeugt, dass die Bohnen lebten und sie sich langsam erholten.
In der Firma hatte sich der eine oder andere anfangs noch nach den Bohnen erkundigt. Das war aber eher eine spöttische Bemerkung, als echtes Interesse. „Kurt, der Zoologe“, war er lange gewesen, nun kam „Kurt, der Gärtner“ dazu. Klar. Seine Kollegen beschäftigten sich in ihrer Freizeit eher mit Motoren, Bier, Mädchen und derlei Sachen. Andere hatten seriöse Hobbies, sie sammelten irgendwas oder taten richtig wichtige Sachen, zum Beispiel in der Politik oder in einem Verein. Doch Kurt liess sich nicht beirren und blieb seinen zwei Nebenbeschäftigungen treu. Im Zoo holte er sich in Zwiegesprächen mit allerlei Getier seine Inspirationen und konnte so den zunehmend hektischen Alltag hinter sich lassen. Und das tägliche Ritual mit den Bohnen nahm auch viel Zeit in Anspruch, erfüllte Kurt aber völlig. Nach wie vor war Kurt gerne bereit, in der Firma Sonderaufgaben wahrzunehmen. Diese nahmen in letzter Zeit zu, weil ein paar Kollegen öfters krank wurden. Zudem war der Personalbestand gleich geblieben, obschon die Arbeitsmenge stieg. Vor etwa drei Jahren war dann auch eine neue Lagerhalle dazu gekommen. Das Betriebsklima änderte sich allmählich und Gehässigkeiten nahmen zu. Doch Kurt war der stete ruhige Pol, wie schon seit Jahren. Das brachte ihm seitens Geschäftsleitung Wohlwollen ein, aber unter den Kameraden wurde er deswegen auch schon beschimpft. Darum verkroch sich Kurt noch mehr in den Zoo oder pflegte die Bohnen. Klar, dass er an beiden Orten schon mal von seinem Job berichtete und damit seine Sorgen irgendwie mit jemandem teilen konnte und damit loswurde. Die Bohnen wuchsen übrigens nun zusehends und jede hatte ihr eigenes Kistchen. Diese bedeckten schon fast den ganzen Balkonboden.
Völlig aus dem Häuschen war Kurt dann eines morgens in die Firma gekommen und berichtete es jedem mehrmals: Bei allen seinen Bohnen waren gleichzeitig kleine Knospen entstanden. Zudem hatten die Bohnen die Farbe ins rötliche verändert. Damit hatte die lange Rettungsaktion zum Erfolg, zu seinem Erfolg geführt. Das gab den Neidern in der Spedition, die ausser den regelmässigen Kneipenbesuchen kaum etwas in ihrer Freizeit unternahmen, weitere Nahrung im Hass gegen Kurt.
Fast täglich berichtete Kurt von der Entwicklung seiner Bohnen. Scheinbar wuchsen die Dinger sehr schnell. Doch irgendwann merkte Kurt, dass ihm kaum jemand mehr zuhörte. Er zog sich noch mehr und mehr zurück und erledigte still und zuverlässig die ihm anvertrauten Aufgaben. Sogar bei trübem Wetter ging er regelmässig in den Zoo. Dort war er in vertrauter Umgebung und das gab ihm Halt. Auch zu Hause war er gerne. Die Bohnen hatten bereits die stattliche Höhe von gut einem halben Meter erreicht. An den Stängeln wuchsen regelmässig Blätter und ungefähr nach jedem vierten Blatt bildete sich eine Knospe. Das Leben hätte für Kurt ewig so weitergehen können. Doch eines Frühling-Tages flatterte ihm ein Brief der Hausverwaltung zu, die auf den kommenden Sommer eine Gebäudesanierung ankündigte. Ein genauer Plan teilte jedem Hausbewohner mit, wann er seine Wohnung nur reduziert benutzen konnte. Die Nasszellen und Küchen würden erneuert und modernisiert, die Fenster besser isoliert (kein Wunder bei den aktuellen Heizölpreisen) und die Balkone mit Glas geschlossen, so quasi zu einem Wintergarten erweitert. Die Vermieterin stellte für die Zeit der Umbauten verschiedene Möglichkeiten vor. Man konnte wählen zwischen temporärem Umzug in eine der zwei freistehenden Wohnungen oder (und das würden wohl die meisten sein) einer Mietzinsreduktion während der Zeit, in der die eigene Wohnung umgebaut wurde. Ach ja, dank erhöhtem Komfort nach der Sanierung würden die Mietzinsen wahrscheinlich steigen, aber nur moderat.
Für Kurt war sofort klar, wo sein grösstes Problem liegen würde: Die Bohnen auf dem Balkon mussten während rund 3 Wochen ausquartiert werden. Doch wohin damit? Konnte er sie einem Kollegen oder Freund anvertrauen? Nein, das kam nicht in Frage. Einerseits hatte Kurt kaum Kollegen und schon gar keine Freunde. Und von den Kollegen war keiner zuverlässig genug, um die regelmässig notwendige Düngung und Pflege zu garantieren. Kurt musste seine Pfleglinge selber betreuen. Also bewarb er sich wohl oder übel um eine der temporär frei werdenden Wohnungen.
Drei Wochen später erhielt er abends Besuch von einer Dame der Hausverwaltung. Schonend brachte sie ihm bei, dass beide Ausweich-Wohnungen praktisch durchgehend benutzt wurden. Und man auch den Mehrpersonenhaushalten den Vorrang gäbe. Doch sie brachte auch Ideen mit. Ob er nicht in dieser Zeit Ferien machen könne, man würde sich bereit erklären, den Umbau in seiner Wohnung innert maximal vierzehn Tagen vorzunehmen. Kurt versprach, sich die Sache nochmals zu überlegen. Trotzdem war für ihn bereits klar, dass damit sein grosses Problem (wohin mit den Bohnen?) nicht gelöst wurde. Aber er hatte eine Idee. Gleich morgen wollte er im Geschäft nachfragen, ob er die Bohnen während der Umbauzeit nicht irgendwo in einer unbenutzten Ecke einer Lagerhalle unterbringen könnte.
Im Geschäft war man nicht erbaut darob und wollte nicht darauf eintreten. Vor allem könne man nicht so weit im Voraus sagen, ob dann Ende Juli auch tatsächlich ein freier Platz zur Verfügung stand. Kurt blieb hartnäckig und wuchs über sich hinaus. Er verhandelte und argumentiert, wie noch nie in seinem Leben. Er kam sich rückblickend vor, wie ein liebevoller Vater; oder ein Lehrer, der sich für seine Schützlinge einfach einsetzen musste. Wenn Kurt damals gewusst hätte, dass diese Lösung das Ende seiner Bohnen bedeutete, er hätte wohl eine andere Idee gesucht. Doch das wusste Kurt noch nicht und niemand konnte ahnen, dass das einmal während langer Zeit das Stadtgespräch werden sollte.
Schliesslich konnte Kurt seinen Chef für die Sache gewinnen und mit dessen Unterstützung willigte die Geschäftsleitung ein, Kurts Bohnen während maximal eines Monats Asyl zu gewähren. Der Preis dafür war – auch das in der Retrospektive beurteilt – viel zu hoch. Kurt musste einfach eine pauschale Lagermiete bezahlen und ihm wurde für die Zeit auch ein Schlüssel der betreffenden Halle zur Verfügung gestellt. Die Kaution dafür war sehr hoch, doch das war Kurt egal. Das war er seinen Bohnen einfach schuldig.
Schliesslich kam das Wochenende vor dem Wohnungsumbau und Kurt verbrachte die ganzen zwei Tage damit, den Raum für die Bohnen herzurichten, mit dem kleinen Anhänger die Gefässe einzeln zu zügeln – die Bohnen hatten nun eine Höhe von fast anderthalb Metern erreicht und die Knospen waren pralle Bälle. Dort mussten wohl bald Samen oder farbige Blüten heraustreten. Kurt hoffte, dass der zweimalige Umzug in sehr kurzer Zeit den Pflanzen keinen Schaden zufügte. Vielleicht ein kleiner Wachstumsstillstand, war doch in der Lagerhalle auch kaum natürliches Licht und manchmal herrschte ein Luftzug von der offenen Tür.
In der Nacht vom Sonntag auf den Montag schlief Kurt kaum. Er kam sich so allein und verlassen vor, dass er ständig von einem Zimmer ins andere lief. Nur gut, hatte er mit den andern Umzugs-Vorbereitungen noch nicht begonnen. Mit der nötigen Arbeit konnte er sich ablenken und das tat ihm gut.
Am nächsten Morgen war Kurt natürlich schon gut eine Stunde vor Arbeitsbeginn bei seinen Bohnen. Er hatte ja den Schlüssel. Er freute sich riesig ob des Wiedersehens und begrüsste jede Pflanze einzeln. Kurt war erleichtert, dass er überhaupt keine Veränderung feststellen konnte. Er goss die Kübel, sprach mit den Bohnen und gab hier und dort noch etwas Dünger dazu. An diesem Tag lief es Kurt ausgezeichnet. Die Nähe zu seinen Bohnen schien ihn richtig zu beflügeln. Kein Fehler unterlief ihm, alles wurde perfekt parat gestellt, die nötige Inventur ergab keine einzige Abweichung, wirklich ein erfreulicher Tag. Den Mittag verbrachte Kurt bei seinen Bohnen und verzehrte dort die mitgebrachten Brote. Abends erledigte Kurt noch einen Eilauftrag und war sichtlich froh, als letzter noch bei der Arbeit zu sein. Ihm war nicht verborgen geblieben, wie die Kollegen ihn heute mieden. War doch einmal ein persönlicher Kontakt nötig, spürte Kurt die hämischen Gedanken deutlich. Nachdem die letzte Palette auf dem Lastwagen verzurrt war, konnte sich Kurt wieder seinen Bohnen widmen. Er erzählte von seinem guten Tag, aber auch von den sonderlichen Kollegen. Er verbrachte einen ungemütlichen Abend bei seinen Schützlingen, aber was sollte er zu Hause in der Baustelle? Er entschloss sich hingegen, morgen einen bequemen Gartenstuhl mitzubringen. Schliesslich verabschiedet er sich und schlenderte traurig, irgend mit einer inneren Leere nach Hause. In der Nacht – es war leider auch noch Vollmond – stürzte Kurt von einem verrückten Traum in den nächsten. Am Morgen war er trotz intensiver und kalter Dusche nicht richtig wach zu kriegen. Trotzdem ging er heute nochmals etwas früher in die Spedition. Und den Stuhl hatte er natürlich auch vergessen. Es tat ihm wohl, sich um die Pflanzen kümmern zu können und das stärkte ihn für den Tag. Es wurde ein hektischer Tag. Und die Diskussion mit dem Lagerchef wegen des Gabelstaplers ärgerte ihn masslos. Er war sich ziemlich sicher, gestern Abend das Gerät wie üblich am Strom angeschlossen zu haben, damit sich die Batterien wieder aufladen konnten. Unerfreulich auch der Vorwurf, dass er nicht beachtete hatte, dass die Ware aus Singapur kühl gelagert werden sollte. Kurt wusste genau, dass er sich nicht um die drei weissen Container hatte kümmern müssen, das war sein Kollege gewesen. Aber was soll’s: Gestern ein guter Tag und heute eben weniger. Die Mittagszeit reichte heute nicht, um zu Hause den vergessenen Stuhl zu holen. Kurt konnte nur in einer guten Viertelstunde sein Essen hinunterschlingen, bevor es bereits wieder weiter ging.
Abends versorgte er seine Bohnen wie üblich mit lauwarmem Wasser und gab nochmals etwas Dünger dazu, so quasi als Entschuldigung für die fehlende Frischluft und das kaum vorhandene Licht. Dabei klagte er ihnen das Leid vom heutigen Tag. Der Lagerchef machte ihm die Arbeit wirklich nicht einfacher. Fast schien es, als wolle er ihn schikanieren, wo’s nur geht. Heute blieb Kurt nicht so lange, er musste sich dringend ausruhen. Doch zu Hause konnte er kaum einschlafen, zu viel war heute passiert. Erst wesentlich nach Mitternacht viel er in einen unruhigen, traumlosen Schlaf und hörte darum am Morgen den Wecker nicht gleich. So kam er zwar knapp rechtzeitig, aber erneut ohne Stuhl zur Arbeit. Was ihn wohl heute erwartete? Kurt musste nicht lange auf Antwort warten. Der Lagerchef und der Betriebsleiter erwarteten ihn bereits. Sie forderten ihn auf, ins Büro zu kommen und dort kam der Lagerchef gleich auf den Punkt. Gestern parat gestellte Container waren heute früh verschwunden. Fehlende Einbruchsspuren deuteten darauf hin, dass sich jemand über einen ordentlichen Weg Zugang geschaffen habe. Kurt habe seit kurzem einen Schlüssel zum betreffenden Gebäude. Nach knapp einer Stunde war das elende Gespräch beendet und Kurt war sich nicht sicher, ob er die beiden von seiner Unschuld hatte überzeugen können. Der Betriebsleiter war höflich und sachlich gewesen und er hatte dann auch auf den Lagerchef eingewirkt, das Verhör zu beenden und die Polizei nicht sogleich einzuschalten. Man entschied, noch einmal die Papiere zu prüfen, die anderen Mitarbeitenden zu befragen und nochmals einen Augenschein zu nehmen. Wie in einer fernen Wirklichkeit verrichtete Kurt die Arbeit. Er hatte immerhin den Schlüssel behalten dürfen, so was wie „Unschuldsvermutung“ oder ähnlich hatte der Betriebsleiter gesagt. Wenn irgendwie möglich, ging Kurt heute allen Menschen aus dem Weg.
Abends versorgte er die Bohnen und klagte ihnen sein heutiges Leid. Er freute sich sichtlich darauf, wenn die Wohnung dann endlich saniert war und wieder der normale Alltag einkehren würde. Kurt beschloss, endlich wieder einmal in den Zoo zu gehen, dann zu Hause den Stuhl zu holen und den Abend gemütlich bei seinen Bohnen zu verbringen. Im Zoo schaffte er es allmählich, den Ärger des ganzen Tages zu verarbeiten. Er schlenderte gemütlich nach Hause, gönnte sich unterwegs noch ein Bier in einer ihm völlig unbekannten Bar und entschloss sich spontan, gleich auch sein Nachtessen hier einzunehmen. Zu seiner Freude war derart viel los, das sich keiner um ihn kümmerte, wie er da allein sein Mahl einnahm. Alsdann holte er – inzwischen war es bereits dunkel – zu Hause den Stuhl im Keller und machte sich wieder auf den Weg ins Geschäft.
Weshalb stand ein Lieferwagen der Konkurrenz mit laufendem Motor vor der Halle? Warum war das Tor offen? Warum stand gleich beim Eingang die halbe Lieferung der heutigen Wareneingänge auf einem Gabelstapler und der Rest schon im Lieferwagen? Beim Betreten der Lagerhalle meinte Kurt die Veränderung zu spüren. Als er Licht machte, wurde ihm speiübel: Die Bohnenstauden waren am selben Ort, wie er sie vor ein paar Tagen hingestellt hatte. Ihre Stängel waren aber alle zur Mitte geneigt und bildeten dort einen riesigen Knäuel. Die Knospen waren grösstenteils geplatzt und daraus hingen oder standen gallertartige Finger, die sich ebenfalls im Knäuel vereinten. Das ganze war umsäumt von weissen Blüten, die einen eigentümlichen Geruch verströmten. Mitten drin in diesem Knäuel entdeckte Kurt bei näherer Betrachtung die Gestalt des Lagerchefs. Er hing wie leblos in den ihn umarmenden Tentakeln. Sein Gesicht war blau angelaufen und die Augen quollen aus ihrer Höhle, die Zunge hing aus dem Maul und Kurt konnte nicht anders, als das Bild einfach betrachten. Wie versteinert stand er da und erst als der Lagerchef ein leises Röcheln von sich gab, kam Leben in Kurt. Musste er wirklich mit einem Messer oder einem anderen Gegenstand die Bohnen malträtieren, um den verhassten Menschen zu befreien? Derjenige, der ihn als Dieb hingestellt hatte, obschon er scheinbar selber dubiose Geschäfte machte? Kurt entschloss sich etwas widerwillig zur Hilfe und suchte ein Messer, Schere oder Schraubezieher. In der Nähe war die Mechanikerwerkbank und dort fand Kurt, was er suchte. Zurück bei seinen Bohnen bot sich ihm ein völlig neues Bild. Die Arme hatten sich von ihrem Opfer gelöst und in einem Kreis umarmten sich die Bohnenstauden gegenseitig. In der Mitte lag ihr Opfer, das nun wirklich leblos war, mehr nur noch eine in Stoff gewickelte Hülle. Die Blüten strömten weiterhin ihren intensiven Geruch aus, hatten aber ihre Farbe in ein tiefes Blutrot verändert.
