Alfons Nummer zwei

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„Hast Du ein zu Hause?“ Diese Frage, knapp hinter mir geäussert, riss mich urplötzlich aus meinen Gedanken ... und sie traf mitten ins Ziel. „Hast Du ein zu Hause?“, diesmal schon etwas weiter entfernt. Ich drehte mich nach der Stimme um und erschrak gleich nochmals: Diese Statur, dieses Aussehen, dieser wippende Gang. Beinahe unverwechselbar. Krampfhaft versucht, kein Aufsehen zu erregen und genügend Abstand zu halten, ging ich dem Mann unauffällig hinterher. Kurz vor einer Haltestelle wechselte er den Waggon und ich hatte plötzlich Mühe, ihm zu folgen. Leute standen auf, nahmen rücksichtslos Rucksäcke und Mappen von den Ablagen oder zogen Mäntel an und versperrten mir dadurch den Blick auf mein Objekt. Die für mich Fremden versperrten den Mittelgang und strömten und drückten dem Wagenende und damit dem Ausgang entgegen. Was sollte ich tun? Aussteigen oder verharren, wo ich war? Diese Stimme, diesen Mann wollte ich unter keinen Umständen aus den Augen verlieren. Er schien mir plötzlich, so ganz klar und einfach die Lösung meines Problems. Oder sogar die Lösung all meiner Probleme.

Entschuldigen Sie, ich habe in der Verwirrung und voll meiner Gedanken ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Alfons Wernli, Haberstrasse 12 und bin – oder besser gesagt „war“ bis vor wenigen Tagen – wohnhaft in Berlin. Dort habe ich bis vor kurzem ein unauffälliges Leben geführt. Mit Haus, eigenem und abbezahltem Wagen, Garten und ja, eine Familie hatte ich auch. Doch eben, das alles war einmal. So vergänglich sind all diese Güter.

Nun hat mich das Geschick in diese fremde Stadt verschlagen. War das gutes Glück oder schlechtes Pech? Oder umgekehrt. Mir dreht sich der Kopf ob all diesen möglichen und unmöglichen Gedanken. Zu viel war passiert in den letzten beiden Tagen, viel zu viel sogar. Manche erleben in einem ganzen Leben nicht die Hälfte davon. Und glauben Sie mir: Ich gäbe viel darum, auch zu diesen Personen zu gehören.

Eigentlich hatte ich ein geordnetes und beschauliches Leben. Regelmässige Einkünfte, ausser einer überschaubaren Hypothek keine Schulden, aktives Mitglied in Quartiervereinen oder Berufsverbindungen. Ab und zu liess ich mich auch für wohltätige Sachen einsetzen. Die berufliche Situation sah nicht gerade gigantisch aus, aber doch kletterte ich regelmässig in der Hierarchie- und Gehaltsstufe auf. Die Familie wuchs auf fünf Köpfe und mit Ausnahme unserer Ältesten waren die beiden anderen schulisch absolut gut bis sehr gut. Eine sehr erfreuliche Situation also, um die mich sicher manche von Ihnen beneiden.

Irgendwie kam aber in dieses Leben eines Nachmittags ein Gewitter auf, das sich allmählich zum Sturm, später zum Orkan und schliesslich zum Tornado entwickelte. Sie kennen sicher diese scheusslichen Bilder der Verwüstung, die ein solcher Tornado durch halbe Städte Amerikas reisst. Und ein solcher Tornado riss eine Schneise in mein ganzes Leben, und das mitten in Europa, wo’s so was eigentlich gar nicht geben kann. Wenigstens nach meteorologischem Standpunkt. Heute sehe ich das besser. Und heute ist nicht Jahrzehnte später, sondern lediglich drei, vier Tage. So genau weiss ich das auch nicht mehr. Die Zeit hat völlig an Bedeutung verloren. Früher war das anders: Time-Management war das Schlüsselwort. Mit diesem Zaubermittel konnte man alles in den Griff kriegen. Fast gleichzeitig einen Bericht schreiben, an einer Konferenz teilnehmen und mit der Familie einen Fussballmatch besuchen.

Doch ich muss mich nun um diese Stimme - oder vielmehr der Person zu dieser Stimme -  kümmern. Ich beschloss aus einer Eingebung heraus, vorläufig noch im Wagen zu bleiben. Geduldig wartete ich, bis die herausströmende und die schwächer hereinströmende Menschenmasse sich wieder beruhigt hatte und ich langsam Übersicht über die Situation erlangte. Und das Glück war mir hold: Der Mann, den ich verfolgte, war immer noch im Wagen. Ausser Hörweite zwar, aber deutlich sichtbar. So wie er sich links und rechts neigte und stutzende Gesichter zurückliess, stellte er immer noch dieselben Fragen. Ich versuchte, so unauffällig wie möglich den Abstand zu verringern und aufzuschliessen. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, bei einer nächsten Stations-Drängelei nochmals dasselbe Glück zu haben wie vorhin. Schliesslich hörte ich ihn wieder und war erneut (oder immer noch?) verblüfft: „Hast Du ein zu Hause?“ „Weisst Du wo Du hingehörst?“ „Erwartet Dich irgendwer?“ Volltreffer, jedes Mal, jeder Ausspruch ein Volltreffer.

Ich schöpfte Hoffnung, wie schon seit einigen Tagen nicht mehr. Hatte mein „Lebensloch“ ein Ende? Kam ich aus dem Tornado heraus? Oder war das eher das ruhige Auge des Zyklons? Ich wusste es nicht, aber das war einerlei. Nur den Sichtkontakt nicht verlieren. Dieser Mann konnte mir eine neue Identität geben. Dieser Mann war vielleicht sogar meine neue Identität!

Nach ein paar weiteren Stationen waren nur noch wenige Leute im Zug. Wir fuhren nun auch durch ländlichere Gegenden, das Stadtzentrum lag bereits ein paar Kilometer hinter uns. Irgendwann stiegen die letzten Leute aus und die Zweisamkeit die nun für ein paar Minuten folgte, war mir absolut peinlich und dauerte eine ungeheure Ewigkeit. Mit Befriedigung sah ich, dass der andere Mann sich nun hingesetzt hatte und ganz ruhig dasass. Plötzlich bemerkte ich, dass ich sein Gesicht noch gar nicht gesehen hatte. Immer nur sein halbes Profil oder der Rücken waren zu sehen gewesen. Aber das war egal. Mich würde nicht erstaunen, wenn mir das Gesicht dieses Unbekannten völlig vertraut wäre. Nun fahren wir zusammen mit der Bahn. Ich zufällig und bis vor kurzem ohne Ziel. Und er?

Die ruhige Zugfahrt gibt mir Gelegenheit, Ihnen die letzten paar Tage zu erklären. Oder besser gesagt, einen Versuch dazu zu unternehmen, Ihnen zu sagen, was ich mir zusammengereimt habe. Begriffen habe ich nämlich noch längst nicht alles. Also ich sitze hier in einem Abteil eines Zuges mit nichts bei mir als die Strassenkleider meines letzten Arbeitstages, den leichten Regenmantel und einem kleinen Koffer mit allerlei Papieren. Das sind meine Begleiter der vergangenen paar Tage.

An meinen letzten „regulären“ Daseins-Tag als Alfons kann ich mich fast nicht mehr erinnern. Es war einer von unzähligen identischen Arbeitstagen. Ging ich früh zu Bett? War ich aus? Habe ich vor der Glotze gehockt oder ein Buch gelesen? Das alles sind Gedanken zu Momenten, die Lichtjahre vor dem heutigen Tag liegen und mir darum völlig fremd sind. Und egal sind sie mir auch. Sie haben so nichts mit der aktuellen Situation zu tun, dass mir das Ganze schon völlig absurd vorkommt. Glauben Sie mir: Ich habe vor wenigen Stunden noch gelacht, wohl eine gute Viertelstunde lang vor einem Kaufhaus. Tränen gelacht und geprustet bis ich Bauchschmerzen kriegte. Derart irr kam mir meine Lage vor.

Ach, ich verliere mich schon wieder in Details, die rein nichts mit der Sache selber zu tun haben. Also, am Tag X, dem Tag, an dem die schiefe Ebene – ha, wieder so ein Kalauer – anfing, fühlte ich mich morgens nicht sehr wohl. Aber das ging ja vorher schon seit Tagen so. Irgendwie kam ich mir wie mein Schatten vor. Manchmal hörte ich jemanden reden und bemerkte erst beim zuhören, dass ich das selber war, der hier sprach. In den letzten Tagen wiederholten sich auch meine Gedanken fast stetig und – noch schlimmer – teilweise auch meine Aussagen. Ich kam mir vor wie auf einer engen Spirale, die sich dreht, ich bin Teil davon und sehe auf der eben vorbeihuschenden Bahn mir selber zu, wie ich mich vor wenigen Sekunden bewegt, was ich gesagt und sogar was ich gedacht habe. Mein Kollege meinte an diesem Morgen im Büro noch zu mir, dass er bei mir den Eindruck habe, ich sei Hauptdarsteller in diesem Murmeltierfilm. Sie wissen schon, den Film an dem jemand täglich den Vortag erlebt. Ja, dieser Vergleich trifft absolut zu. Und doch ist alles anders: Jeder Tag unterschied sich deutlich in vielen kleinen Details vom Vortag. Das weiss ich ganz genau! Aber eben, ich kam mir vor wie mein Schatten. Oder eher wie ein Abzug, eine kräftige Kopie meiner selbst, die aber täglich an Konsistenz abnimmt. Gleichzeitig mit dieser Abnahme meiner selbst wird der Schatten oder die Kopie kräftiger, farbiger, dominanter.

Achtung, wir waren an der Endstation angelangt und so stiegen wir beiden als letzte Fahrgäste aus. Mittlerweile war es schon sehr dämmrig und ich musste in dieser schwach beleuchteten Gegend aufpassen, Schritt zu halten. Aber so, dass meine Absichten nicht offensichtlich wurden. Nein, böse Absichten hatte ich keine. Ich erkannte nur, dass dort vor mir die Lösung lief, der Passierschein zum Leben, zu meinem Leben, zum normalen Leben, wie es vor diesem grauenhaften Loch war. Eintönig vielleicht, aber durchaus lebenswert. Der Herr vor mir marschierte nun direkt auf den zweitletzten Häuserblock zu. Er schien mich – bewusst oder instinktiv – bemerkt zu haben, denn sein Gang wurde flüssiger, zielstrebiger, gerader. Verflixt, der Eingang liegt mittig und die vielleicht 20 Meter Distanz zwischen uns haben genügt, dass er im Eingang verschwand und sich die Tür bereits wieder schloss, so dass ich durch das trübe Glas nur noch dumm aus der Wäsche schauen konnte. Was tun? Ich las die vielen Namensschilder, soweit sie überhaupt noch lesbar oder vorhanden waren. Aber kein Lichtblitz, kein Aha-Erlebnis. Also ging ich gemächlich weiter zum letzten Block, der in genau derselben Bauweise erstellt etwa 50 Meter weiter hinten stand. Von dort blickte ich zurück und versuchte zu erkennen, ob irgendwo Licht anging. Nach fünf Minuten gab ich’s auf. Ich setzte mich auf die Bank neben dem Spielplatz und überlegte.

Wo war ich verblieben mit meiner Lebensgeschichte? Ach ja, mein letzter normaler Arbeitstag. Oder wenigstens der Beginn erweckte den Anschein, noch normal zu sein. Ein flauer Vormittag ging zu Ende, das Mittagessen in der Kantine war wie immer, die Gesichter in der Nachmittagspause wie jeden Tag. Der Feierabend kam und mit ihm hielt der Tornado Einzug in mein Leben. Auffallend – aber das merkte ich erst später – war, dass Peter mich im Fahrstuhl nach unten irgend etwas fragte, wie: „Du, schon wieder?“ Das ergab keinen Sinn, aber jetzt weiss ich das besser. Auf dem Weg zur Garage begegnete ich meinem langjährigen Kumpel, doch als ich ihm den neusten Witz erzählen wollte, winkte er blöd lächelnd ab und nannte die Pointe. Pech gehabt. Dann kam der erste richtige Schock: Mein Wagen war weg. Sofort ging ich in die andern Etagen nachschauen, Sie wissen ja, ich fühlte mich schon seit einiger Zeit nicht mehr so richtig bei der Sache. Vielleicht hatte ich den Wagen ja falsch abgestellt? Aber nichts dergleichen. Der Portier erinnerte sich sogar, dass er mich habe hinausfahren sehen. Also nahm ich die Strassenbahn nach Hause, ging unterwegs noch beim Polizeiposten vorbei, um mich beraten zu lassen. Eine Diebstahlanzeige habe ich dann aber unterlassen. Sie wissen ja, ich war seit ein paar Tagen … aber das habe ich schon erzählt. Ich war mir nämlich nicht mehr ganz sicher, ob ich den Wagen in die Garage gebracht habe. Oder hat ihn heute meine Frau geholt, weil sie nachmittags zu ihrer Schwester wollte? Der Beamte hatte mich sicher richtig beraten. Denn wie ich später nach Hause kam, stand der Wagen bereits auf seinem Parkplatz. Ganz ruhig, Alfons, Du kriegst sie wieder auf die Reihe, sagte ich noch zu mir.

Was sollte ich nun auf dieser Parkbank anfangen? Eine Nacht im Freien? Bisher hatte ich mir Hotels gegönnt, aber ich wollte morgen früh parat sein, wenn dieser Mann sein zu Hause wieder verliess. Was wäre, wenn er hier nur zu Gast wäre und schon bald, irgendwann und irgendwie von hier verschwinden würde? Wie um aus diese Gedanken Taten werden zu lassen, öffnete sich die Türe – es war zwar mittlerweile schon fast finster – und der Mann trat heraus. Er streckte sich, guckte sich um und ging dann langsam den Weg zurück, den Weg zur Endstation, denselben Weg, den wir vor etwa einer Stunde in die andere Richtung gegangen waren. Ich stand auf und folgte ihm. Trotz zunehmender Kälte hatte ich den Mantel ausgezogen und in die Tasche gestopft. So bildete ich mir ein, nicht mehr gleich auszusehen, wie die Person, die dem Mann vorhin gefolgt war. An der Endstation angelangt, begann erneut das Warten. Im Zug war es schliesslich etwas wärmer und ich kramte alte Notizen hervor, um irgendwie geschäftlich engagiert zu scheinen. Wir fuhren gegen die Stadtmitte und noch etwas weiter. Dann stieg der Mann aus und ich folgte ihm erneut. In der Bahn hatte ich nun auch sein Gesicht zu sehen bekommen und auch aus diesem Grund mein eigener Kopf sehr tief in die Papiere gesteckt. Er brauchte mich nicht zu erkennen. Denn ihm würde es gleich ergehen wie mir: Obschon wir einander noch nie gesehen hatten, wirkte er trotzdem absolut vertraut. Wir schlenderten durch Gassen, überquerten Strassen. Ein Aussenstehender hätte sicher das Gefühl, dass wir beide durch ein unsichtbares Band verbunden waren. Und das waren wir ja irgendwie auch. Wenigstens aus meiner Sicht betrachtet. Endlich schien „mein Partner“ gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte, wir gingen in eine Vorstadtkneipe. Ein Lokal, das ich mir in meinem früheren Leben kaum jemals ausgesucht hätte, höchstens als Zwischenstation, wenn man einmal irgendwo dringend austreten musste und gerade nichts Passendes am Weg lag. Ich war froh, dass dieses Restaurant ziemlich voll war und so konnte ich mich an einen Tisch quetschen, der nahe beim Ausgang war. Mein Objekt las die Speisekarte und so stellte ich mich auf einen längeren Aufenthalt ein. Hunger? Ja schon etwas, aber das bemerkte ich erst hier. Also bestellte ich etwas Essbares, von dem ich hoffte, dass es sehr rasch geliefert würde. Ich wollte den Mann unter keinen Umständen aus den Augen verlieren. Irgendwann musste ich mit ihm sprechen, musste ihm mein Anliegen, mein Problem schildern und er musste einfach begreifen, dass er es lösen konnte. Aber das lag noch in ferner Zukunft und schon bald widmete ich mich dem bestellten Omelett.

Also, ich habe Ihnen geschildert, dass mein Wagen bereits zu Hause war, wie ich heimkam. Da dachte ich noch nichts Böses und vermutete einfach, einfach irgend etwas, an das ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Ich wollte eintreten, aber die Tür war verschlossen. Ja und still war es auch. Hatte ich einen Termin mit der Familie versäumt. Ich musste mich entschieden mehr um die Familie kümmern, dachte ich noch. Besser aufpassen, wenn mir meine Frau etwas sagte oder einfach auf die bewährten kleinen praktischen Selbstklebezettel vertrauen. Ich kramte den Schlüssel hervor und trat ein. Es war tatsächlich niemand zu Hause und auch kein Abendbrot vorbereitet. Ich suchte in meinem Arbeitszimmer und meinem Gedächtnis krampfhaft nach Anhaltspunkten, was ich vergessen hatte, doch es fiel mir nichts ein. Auch an Kühlschrank oder neben dem Telefon fand ich keine Notiz, die mich auf etwas Unvorhergesehenes hinwies. Wie glücklich wäre ich gewesen auf den kleinsten Zettel, mit krakeliger Schrift notiert „Sabine hingefallen, mussten rasch zum Arzt“ oder so. Aber rein nichts im Haus und ums Haus herum. Nach flüchtigem Durchblättern der Zeitung – ich konnte mich auf gar rein nichts konzentrieren – beschloss ich, mir ein kleines Nachtessen zuzubereiten. Doch die Zerstreutheit nahm ihren Lauf. Statt Salz nahm ich Zucker, liess alles überlaufen, vergass Fett in die Bratpfanne zu tun und schmiss schliesslich alles in den Eimer. Ich beschloss, dass „Abendbrot“ ja etwas mit Brot zu tun hatte und schmierte mir ein Butterbrot, das ich mit Fleisch belegte. Na klar, ich schnitt mich beim Brotschneiden mit dem Messer. Nicht tief, aber die kleine Wunde hinterliess riesige Blutstropfen in der Küche, im Flur, im Badezimmer. Und bis das dann wieder gereinigt war! Bier hatte es keines mehr im Kühlschrank, darum ging ich …

Hoppla, jetzt heisst es sputen, der Mann macht Anstalten, aufzubrechen. Ich hatte noch nicht bezahlt, kaum passendes Kleingeld und darum wird sich die Serviertochter sicher noch lange ob des grosszügigen Trinkgeldes freuen. Ich konnte es einrichten, noch vor dem Mann auf der Strasse zu sein und hatte nun den Mantel wieder angezogen. Der Ehrlichkeit halber muss ich gestehen, dass es nicht mehr mein dunkelblauer Regenmantel war, den ich über die Schultern gelegt hatte. Aus einer Eingebung heraus tauschte ich die beiden Mäntel beim Verlassen der Kneipe. Aber glauben Sie mir: Der Tausch verlief absolut nicht zu meinem Vorteil. Aber ich fühlte mich nun wieder etwas anders gekleidet, als noch vorher und hoffte, dass dies zu meiner Tarnung beitrug. Dazu trug sicher auch der Hut bei, den ich auf der Ablage kurzerhand habe mitlaufen lassen. Wenn irgendwie möglich konnte ich ja morgen oder später einmal die Sachen zurückbringen und das Ganze als Irrtum darstellen. Vorausgesetzt, ich fand dieses Lokal noch einmal. Wiederum spazierten wir beide eine Weile herum und diesmal trat der Mann sehr bald in ein Kino. Hatte der nichts Besseres zu tun? Also auf und hinein. Da musste ich nun einmal durch. Wiederum war mir das Glück hold und  ich erwischte einen Platz mit hervorragender Aussicht auf fast alle andern Plätze. Vor allem aber auf den einen. Vom Film kam ich nicht besonders viel mit, es war ein Western mit Schauspielern, die ich anderswo sicher auch schon gesehen hatte.

Also, die kleine Wunde war versorgt – entschuldigen Sie, ich bin wieder beim letzten normalen Tag – die Spuren beseitigt, dass Brot gestrichen, aber kein Bier im Schrank. Also nahm ich den Teller und ging in den Keller, um mir eine Flasche zu holen. Und wie ich dort unten bin, höre ich auf einmal wie meine Familie zurückkehrt. Meine ganze Familie. Mensch, meine vollständige Familie, verstehen Sie, alle fünf Personen. Ich hörte mich deutlich mit meinen Kindern kalauern. Wahrscheinlich ein Nachtessen in einem feinen Restaurant, schloss ich aus den Bemerkungen. Idiotische Lage, mir trat Schweiss auf die Stirn und die Augen ein Stück weit aus der Höhle. Ich stand im Keller und hörte mich gleichzeitig oben mit der Familie tratschen. Ich stiess den Kopf gegen die Wand, kniff mich in den Arm, blinzelte mehrmals, setzte mich, aber es war kein Traum. Ich war scheinbar gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten. Nein, das trifft es nicht genau. Ich war entschieden im Nachteil. Mein zweites Ich hatte meinen Platz eingenommen. Spielte mir die Fantasie einen Streich? Oder war das die Familie, die mir einen Streich spielte? Langsam schlich ich die Treppe hinauf und spähte durch den Spalt der angelehnten Kellertüre. Nach und nach bekam ich alle zu Gesicht, ausser dem zweiten Ich. Dieser war immer im Halbdunkel oder dann nur schemenhaft zu sehen. Was sollte ich tun? Krasser Auftritt und fordernde Worte? Ich fühlte mich dazu momentan absolut nicht in der Lage. Abwarten wäre wohl das Beste, entschied ich und schlürfte auf der Kellertreppe mein Bier und ass dazu das bestrichene Brot. Oben verzogen sich die Kinder in ihre Zimmer und „Ich“ und meine Frau schalteten den Fernseher ein.

Wieso kam der Kerl nicht aus der Pause zurück? Der Film hatte doch längst wieder begonnen und sein Platz war immer noch leer. Verzweifelt guckte ich mich um, aber ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Na ja, ich war auch schon mehr als einmal vor Filmende abgehauen. Also stürmte ich, mich links und rechts entschuldigend aus dem Kino auf die Strasse. Diese war natürlich leer. Verdammt und zugenäht. Was jetzt? Ich beschloss, den Weg zurück zu gehen, den wir gekommen waren. Vielleicht nahm er in der Kneipe von vorhin noch ein letztes Bier, bevor er nach Hause ging? Allerdings hatte ich das Glück schon mehrmals beansprucht und kaum mehr Hoffnung, dass es nochmals half. Als ich um die letzte Ecke vor der Spelunke bog, hängte sich jemand bei mir ein und bog meinen Kopf auf die entgegen gesetzte Seite. Eine Stimme – eine wohlbekannte Stimme – zischte in mein Ohr: “ Wollen wir es hier hinter uns bringen oder gehen wir noch ein Stück?“ Ohne eine Antwort abzuwarten schleifte die Person mich einfach weiter. Ich liess es wortlos geschehen und war erleichtert, den Mann wieder gefunden zu haben. Oder er hatte eher mich gefunden. Wie dem auch sei, so liefen wir, wie zwei gute Kumpels, die Strasse entlang und landeten dann auf einem entlegenen, kaum bewirtschafteten Bauplatz. Wir gingen weiter und er stiess mich schliesslich in einer Baracke auf den Boden. Ich rappelte mich auf und er schloss in der Zwischenzeit die Tür mit dem Vorschubschloss. Dann machte er Licht und wir starrten einander lange an. Ich liess ihm Zeit, sich von seinem Schreck zu erholen. Von einem Schreck, den ich bereits hinter mir hatte. Da standen einander zwei völlig gleich aussehende Männer gegenüber. Gleiche Grösse, Haarfarbe, Haarschnitt, beide mit Dreitage-Bart, identische Statur, einzig die Kleidung unterschied sich. „Was soll das?“ herrschte er mich an. „Wieso verfolgen Sie mich? Wieso sehen Sie überhaupt so aus, wie ich?“ Ich versuchte, das Stemmeisen in seinen Händen nicht allzu sehr anzustarren und setzte mich langsam auf das schäbige Sofa.

Sie kennen nun meine Lage. Was hätten Sie in dieser Situation gemacht? Ich hatte mich noch nicht genauer damit auseinander gesetzt sondern auf eine Eingebung gewartet. Nun hatte sich das Blatt gewendet und ich war plötzlich nicht in der Lage, den Lauf der Dinge zu bestimmen. Aber war ich das in den letzten Tagen überhaupt gewesen? So versuchte ich, meinem Gegenüber irgendwie darzulegen, was mir alles widerfahren war. Den Anfang kennen Sie schon. Ich verblieb in beschriebener Nacht damals im Keller, bis es ruhig war und ich sicher sein konnte, dass sich alle zur Ruhe gelegt hatten. Dann schlich ich mich – in meinem eigenen Haus – wie ein Einbrecher durch die Zimmer und beschloss, den Rest der Nacht in einem Hotel zu verbringen. Ich brauchte Zeit, um nachzudenken. Nach einem wohltuenden Frühstück ging ich in die Firma. Dort dann kleiner Horror pur. Am Empfang fragte man mich, ob ich etwas vergessen hätte, schliesslich sei ich vor etwa einer halben Stunde bereits eingetroffen. Mein Arbeitsplatz war zwar leer, aber die Sekretärin guckte mich verdutzt an und meinte, ob ich denen aus der Sitzung davon gelaufen sei, der Bereichsleiter habe heute früh eine ausserordentliche Besprechung aller Abteilungsleiter einberufen, die den ganzen Vormittag dauern sollte und nun stünde ich plötzlich im Büro. Eilends packte ich ein paar Sachen zusammen, stotterte etwas von vergessenen Unterlagen und stürzte mich wieder in den Flur. Dann verliess ich die Firma durch den Notausgang, der wegen Umbauarbeiten nicht verschlossen war. Seither war ich auf der Flucht. Aber auf der Flucht wovor? Vor mir selbst? Das wusste ich nicht genau; genauso wenig wie ich wusste, wohin ich sollte. Nur eines war klar: Ein Doppelgänger hatte meine Stelle in allen Belangen eingenommen.

Schweigend starrte mich mein Gegenüber an und unterbrach mich nicht ein einziges Mal. „Und nun, was führt Sie zu mir?“ Ich wusste es nicht. „Warum dringen Sie in mein Leben ein?“ Dann erzählte er mir seine Geschichte. Probleme mit Alkohol, dem Arbeitgeber, der Familie. Schliesslich auch mit der Polizei. Dann landete er fernab von zu Hause hier. Schon seit etwa vier Monaten hauste er nun in dieser Stadt, in dieser Baracke und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er hatte sich nach und nach in die heutige Person verändert und konnte sich nunmehr ziemlich frei bewegen. Aber ohne echte Ausweise und formell beglaubigte Papiere und so weiter sei er eben nur ein halber Mensch. Instinktiv dachte ich an meinen Führerausweis in der Jacke, den Pass in der Mappe und die etlichen Kreditkarten, die man halt so mit sich herumschleppt.

„Meinen Sie nicht auch,“ fuhr er fort und seine Augen funkelten, „dass einer von uns zuviel ist?“ Schweigend starrten wir uns an. Auf einmal wollte ich nur noch fort, weit fort von hier und diesem Alptraum. Er kam auf mich zu, ich war völlig in die Enge getrieben. Vielleicht war es das, denn auf einmal sprang ich auf, schlug ihm die Mappe ins Gesicht und stürzte mich zur Tür. Er schrie auf und liess überrascht ob der Heftigkeit meines plötzlichen Angriffs sein Stemmeisen fallen. Das gab mir die nötige Zeit, den Riegel wegzuschieben und mich aus der Baracke zu stürzen. Dann rannte ich nur noch soweit mich meine Füsse trugen. Seine Schreie blieben zurück und schon bald hörte ich sie nicht mehr. Irgendwann konnte ich nicht mehr und blieb stehen. Luft, Luft! Meine Lunge schien zu kollabieren. Es dauerte lange, bis ich mich zu erholen begann. Kein Mensch in Sicht. Ich traute der Sache nicht recht und blieb angespannt in einer dunklen Ecke stehen. Was jetzt? Nach sehr langem Abwägen entschloss ich mich zum Idiotischsten, das ich in meinem Leben bislang gemacht hatte. Ich kehrte zur Baracke zurück. Auf dem Bauplatz angelangt blieb ich stehen und inspizierte die Lage. Ruhe, Stille, Dunkelheit. Dem Rand entlang schlich ich mich in Richtung Baracke, stets gefasst, von einem Stemmeisen niedergeschlagen zu werden. Schliesslich stand die Baracke vor mir, hell erleuchtet, die Türe offen. Und nun? Ich wartete etwa eine halbe Stunde fröstelnd und beobachtete sowohl die Baracke wie auch die Umgebung. Nichts rührte sich. Also beschloss ich, mich der Baracke langsam zu nähern. Es gelang mir, den Eingang im Auge zu behalten und trotzdem nicht in den Lichtwinkel zu treten. Als ich etwa auf vier Meter heran war, konnte ich ins Innere spähen. Mir stockte der Atem: Dort lag – ich erkannte es an den Kleidern – der Mann auf dem Boden und rührte sich nicht. Eine Falle? Ich beobachtete das Ganze noch einige Zeit und als alles ruhig blieb ging ich direkt in die Baracke. Tatsächlich lag dort der Mann. Der Boden war voller Blut. Ich drehte den leblosen Körper um und sah, dass er in das Stemmeisen gestürzt war und nun tot in seiner Baracke lag. Ich schloss sofort die Türe und setzte mich wieder aufs Sofa. Welch ein Schlamassel. Automatisch begann ich die Baracke zu untersuchen und stiess auf die Habseligkeiten dieses Mannes. Und neben der Baracke stiess ich auf einen Umschlag mit Ausweisen. Mit leuchtenden Augen und klammen Fingern nestelte ich den Umschlag auf. Konnte ich mit diesen Papieren – auch wenn sie gefälscht waren – wenigstens mein Leben als irgendwer sinnvoll weiterführen? Ich traute meinen Augen nicht. Ein heiserer Schrei entrang sich meiner Brust, dann noch einer, und noch einer: Die Ausweise lauteten auf Alfons Wernli, Haberstrasse 12 in Berlin: Meine eigene Adresse! Ich betrachtete Papiere, die auf mich selber lauteten. Und das sogar mit echtem Foto! „Du Hund, Du hast mir meine Zukunft gestohlen“ schrie ich, „aus, fertig mit meiner neuen Identität“. Ich hob die Hand mit dem Stemmeisen und schlug auf die Baracke ein und hob wieder die Hand und schlug und schlug  .. und bemerkte erst jetzt, dass vom nahen Waldsaum eine Gruppe Sportler herüberblickte. Sie kamen nun herüber, auf mich zu, immer näher, bis ich die Abzeichen lesen konnte: FC Hauptwache Berlin-Schillerpromenade.

 

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