Kurzgeschichten
Eugen und das Spiegelbild
Eugen Sommer lebte ein ganz normales Leben. Wenigstens die bisherigen 43 Jahre lang konnte man das ein normales Leben bezeichnen. Jeder von uns, der in irgend einem Irrsinn vegetieren musste, hätte jederzeit gerne mit Eugen getauscht. Aber Eugen sah das nicht ganz gleich. Sein Leben war eine einzige gerade Schnur, wenn man das so sagen darf. Oberschule reihte sich an Grundschule, dann folgte eine kaufmännische Lehre mit durchschnittlichem Abschluss. Alsdann ein dreimonatiger Sprachaufenthalt in Frankreich, die militärische Grundausbildung und mit 23 zog er zu Hause aus. Fünf Jahre später heiratete Eugen und zusammen mit seiner Frau bewohnt er seither eine Vierzimmer-Wohnung am Stadtrand. Kinderlos. Leider. Einmal in der Woche geht er zusammen mit Kameraden in einen Gesangsverein und bleibt dann noch auf ein Bier (selten sind es zwei) in der Wirtschaft. Daneben sammelt er Briefmarken und liest gerne Science-Fiction-Bücher. Erstaunt Sie zu vernehmen, dass Eugen in der Lehrfirma blieb und schon in wenigen Monaten sein 25-jähriges Jubiläum feiern kann? Wohl kaum. Seine Frau hatte nie aufgehört zu arbeiten und ist heute zu 60 % in einer Speditionsfirma in der Buchhaltung angestellt. Im Gegensatz zu Eugen ist das schon etwa die elfte Anstellung. Immer lief sich ihr Job tot, wie sie zu sagen pflegte. Sie braucht dauernd neue Herausforderungen. Einzig Konstantes in ihrem Leben ist das Engagement in einer kleinen Vorortsgemeinde. Es ist der Ort, an dem sie als Jugendliche aufwuchs. Dort ist sie in vielen Ämtern tätig, kümmert sich um die älteren Menschen, leitet den Turnverein, kocht im Winter für die Schulkinder Mittagssuppe und arbeitet regelmässig aktiv bei der Kommission zur Dorfverschönerung mit.
Jetzt kann ich Ihnen sagen, Eugen war mit seinem Leben recht zufrieden, er liebte das Ordentliche, Regelmässige. Seine Frau war so etwa das Gegenteil davon. Sie liebte die Abwechslung, lebte spontan und war ab und zu für deftige Überraschungen gut. Eugen liess sich davon mitziehen und hatte sich eigentlich recht gut an die Art seiner Frau gewohnt. Und sie wusste um die Zuverlässigkeit ihres Mannes. Das gab eine Art Symbiose; jeder profitierte irgendwie vom Partner; man wusste ziemlich genau, was er tat und wie er reagieren würde.
Die Veränderung in dieser ausgeglichenen Situation kam völlig unerwartet, wie so oft. Eigentlich war es – das passt ausgezeichnet zu Eugen – ein ganz normaler Verkehrsunfall. Eugen war mit seinem Fahrrad auf dem Weg vom Büro nach Hause, als der Lieferwagen ihn rammte. Vom rechtlichen Standpunkt aus eine eindeutige Sache; der Fahrer des Lieferwagens war einzig und völlig schuldig. Das gab auch keine Probleme mit der Versicherung. Der Spitalaufenthalt war von kurzer Dauer, nebst ein paar Verstauchungen war die Hirnerschütterung die schwerwiegendste Verletzung. Bereits nach knapp 10 Tagen konnte Eugen halbtags wieder zur Arbeit. Eigentlich wäre eine Woche später eine völlige Arbeitsfähigkeit wieder gegeben gewesen. Aber hier setzt die bisherige Kontinuität in Eugens Lebens aus. Für immer. Eugen war nicht mehr der alte. Das merkte er eines Morgens beim Rasieren. Wie er sich so im Spiegelbild betrachtete, kam er sich anders vor. Nun, das haben viele von uns auch, dass man sich morgens nicht mehr so sehr erkennt, nicht wahr. Manchmal hält man auch stumme Zwiegespräche mit seinem Spiegelbild. Oder man klagt ihm sein Leid. Die Antwort kommt dann aus unserem Hirn oder vielleicht auch aus unserem Unterbewusstsein. Hat Ihnen aber Ihr Spiegelbild schon mal völlig unabhängige Antworten erteilt? Nein? Dann ist das bei Eugen schon anders.
An besagtem Morgen – Eugen sollte heute erstmals wieder halbtags zur Arbeit gehen – rasierte er sich also. In Gedanken fragte er sich so, was ihn heute wohl erwarten würde. Und die Antwort kam sehr klar: Ein Blumenstrauss von den Kollegen in einer durchsichtigen Glasvase, eine Ulk-Karte mit Genesungswünschen und eine Flasche Rotwein. Daneben sah er fünf, nein sechs von seinen Dossiers, die heute oder morgen eine Entscheidung bräuchten. Von Herrn Wassmer war dann noch ein an ihn persönlich adressierter Brief obenauf. Natürlich ungeöffnet. Darin eine Reklamation wegen der für nächstes Jahr nicht mehr gewährten Rabatte. Aber der Umsatz sank seit mehrere Quartalen regelmässig, so dass man sich zu diesem Entscheid durchgerungen hatte. Trotz der nun elfjährigen Beziehung. Das war also die Antwort des Spiegelbildes. Natürlich merkte sich Eugen das nicht ausdrücklich. Aber als er den Ursprung der Veränderung an sich suchte, fand er hier die logische Erklärung.
Also, an diesem Tag ging Eugen wieder ins Büro. Einige Kollegen begrüssten ihn aufmerksam, wie man eben jemanden freundlich willkommen heisst, der nach einer Absenz wieder zur Arbeit erscheint. Tatsächlich fand er auf seinem Pult die Blumen, die Karte und die Flasche Wein. Daneben fein säuberlich gestapelt ein kleiner Stoss von seinen Dossiers, so quasi als Fingerzeig, dass man ihn wieder brauchte. Nachdem er sich bei den Kollegen für diese Gesten bedankt und den Unfall wohl an die siebenmal geschildert hatte, nahm er die Arbeit wieder auf. Sorgfältig studierte er den Aktenstand in den sechs Dossiers und arbeitete sich dann systematisch wieder in die einzelnen Fälle ein. Kurz vor der Pausenzeit rief ihn sein Chef ins Büro. Er erkundigte sich nach seinem Befinden und wie lange er wohl noch halbtags arbeiten müsste, bevor er wieder ein volles Pensum erledigen könnte. Dann nahm er aus seiner schwarzen Mappe einen Brief und händigte ihn Eugen aus. „Dieser Brief ist an Sie persönlich angeschrieben und gestern eingetroffen. Da wir wussten, dass Sie heute wieder erscheinen, haben wir ihn zur Seite gelegt.“ Eugen nahm den Umschlag an sich und ging zu seinem Arbeitsplatz zurück. Der Rest des Tages ist hier nicht besonders erwähnenswert. Kurz nach dem Mittagessen in der Kantine machte sich Eugen auf den Heimweg. Dort legte er sich hin, wie ihm der Arzt geraten hatte. Gegen vier Uhr kam seine Frau nach Hause und sie tranken zusammen einen Tee. Früh ging Eugen zu Bett und schlief sehr gut.
Am nächsten Morgen musste seine Frau früh raus, sie hatte noch einen Zahnarzttermin. Kurz bevor sie das Haus verliess, weckte sie Eugen. Der frühstückte ausgiebig bevor er sich duschte, rasierte und anzog. Beim Rasieren überlegte er sich scherzeshalber, was ihn wohl heute erwarten würde, aber er erhielt keine Antwort. Im Nachhinein merkte er dann, dass der Spiegel beschlagen war und er sein Spiegelbild gar nicht gesehen hatte.
Dieser zweite Tag verlief absolut durchschnittlich. Im Büro machte niemand mehr Aufhebens um seine Abwesenheit. Wie schon am Vortag ass es in der Kantine etwas Leichtes und ging dann nach Hause. Wieder legte sich Eugen hin. Nach ein paar Minuten stand er auf und holte sich ein Glas Wasser aus der Küche. Im Flur betrachtete er sein Spiegelbild und überlegte, ob er am abendlichen Gesangstreffen teilnehmen sollte oder nicht. Und sehr klar kam die Antwort von seinem Gegenüber: Heute Abend wird man heftig diskutieren, ob für den Liedervortrag vom nächsten Frühling eher ein klassischer Stil oder etwas Aktuelleres auszuwählen sei. Mit nur zwei Stimmen Unterschied wird man sich an Neues heranwagen. Belustigt nahm Eugen von seiner Eingebung Kenntnis und beachtete sie nicht weiter. Er wollte abends spüren, wie er sich fühlte. Je nachdem ginge er dann zur Probe oder er liess sie noch einmal ausfallen.
Nachdem er sich ausgeruht hatte, nahm Eugen etwas Kaltes zum Nachtessen und beschloss dann spontan, dass ihm der Gesangsabend und die Kollegen gut tun würden. Also ging er rechtzeitig und wurde von allen freundlich begrüsst. Die Stimmübungen waren noch nicht beendet, da meldete sich Karl zu Wort. Mit einem Lamento über die Disziplin heute Abend meinte er, man würde die Zeit besser nutzen, um endlich die modernen Lieder für den Auftritt vom nächstem Frühling zu bestimmen. Eine heftige Diskussion für den neuen Stil oder für die klassischen Darbietungen folgte und schliesslich kam es zur Abstimmung, die dem Dirigenten den Auftrag einbrachte, für die nächste Gesangsprobe Ideen in moderner Richtung vorzulegen. Aber mit zwei Stimmen Unterschied war der Ausgang nicht ganz so eindeutig ausgefallen.
Erst zu Hause fiel Eugen auf, dass ihm der Spiegel das genau so vorher gesagt hatte. Zufall meinte er, als er das seiner Frau schilderte. Er schlief rasch ein, das Bier tat wohl das seine. Aber das Bier sorgte auch dafür, dass er mitten in der Nacht doch noch rasch auf die Toilette musste. Danach schlief er erst mühsam wieder ein, so dass der Wecker für seine Begriffe viel zu früh rasselte. Unter der Dusche kamen ihm die Spiegel-Geschichten wieder in den Sinn. War heute nicht Mittwoch? Zahlenlotto? Na klar. Also begab er sich mit Stift und Papier ausgerüstet vor den Flur-Spiegel und befragte ihn nach den Zahlen zur heutigen Ziehung. Wie der Blitz fuhren ihm sogleich aus allen Richtungen sechs Ziffern ins Hirn. Benommen setze sich Eugen hin und versuchte, die einzelnen Zahlen zu trennen und ordentlich auf die Reihe zu kriegen. Aber an mehr als drei Werte vermochte er sich nicht klar zu erinnern, eine weitere Zahl war noch vage dabei aber zwei zweistellige Ziffern schwanden. Na, dachte Eugen, zu schön um wahr zu sein. Lachte und entschwand ins Büro. Über Mittag schnell zum Kiosk und die Tipps abgegeben, bevor er sich zu Hause wieder ausruhte. Abends – so schnell kann man sich auf vermeintliches Glück einstellen – konnte Eugen kaum die Ziehung der Lottozahlen abwarten. Na was soll ich Sie lange auf die Folter spannen: Die zwei zweistelligen Zahlen, an die er sich nicht erinnern konnte, hatte er bei Weitem verfehlt. Die dritte vage Zahl hatte er auch nie erraten. Aber erklären Sie einer verdutzten Kioskfrau einmal, warum auf ihrem Lottozettel bei sechs Tipps insgesamt sechs Dreier heraus schauen! Nicht sehr einfach, gell?
Die „neu erworbene Fähigkeit“ (wie er es ausdrückte) führte bei Eugen zu einer Wesensveränderung, die auch nicht sehr nahe stehende Personen rasch wahrnahmen. Er wurde rechthaberisch, launisch, nahm an Gesprächen nicht mehr aufmerksam teil (bei vorher anberaumten Sitzungen wusste er ja bereits den Beschluss voraus) und verlor so auch den Kontakt im Kollegenkreis. Dafür scharten sich in der Kneipe eine neue Sorte von „Kollegen“ um ihn. Eugen hatte über Nacht den Ruf eines unfehlbaren Börsenkenners erworben. Er wusste, wann man Aktien kaufen oder besser meiden sollte, wann sich Anlagen in Edelmetalle lohnten und welche Devisen einen interessanten Verlauf nahmen. Diese Fähigkeit war wohl auch der Grund seines neuerlichen Wohlstandes, den er auch nicht unbedingt versteckte. Er erzählte niemandem, dass er es mittlerweile ziemlich regelmässig auf Fünfer im Zahlenlotto brachte. Das war wesentlich ertragsreicher, als die Börsengeschäfte. Er liess auch alle rund um ihn herum jederzeit wissen und spüren, dass er jederzeit ohne alle auskommen könne.
Es wird Sie kaum erstaunen, dass sich sein restliches Leben völlig in unerfreuliche Bahnen entwickelte. Wenn seine Frau anfangs die Veränderung als Midlife-Krise noch akzeptiert hatte, so wurde es ihr schon bald zu bunt. Die Trennung war vorprogrammiert. Die Scheidung verlief, weil Eugen in alles einwilligt, sehr zügig und friedlich. Schliesslich konnte sich Eugen jederzeit eine neue Herzensdame anlachen. Die Mädels flogen nur so auf ihn. „Glück verleiht einem eine Aura“, pflegte er zu sagen. „Ich bin halt unwiderstehlich“ war auch so eine Redensart. Den Job hatte er natürlich längst an den Nagel gehängt, er konnte schliesslich jederzeit tun und lassen was er gerade wollte.
Erinnern Sie sich, dass diese Wandlung relativ plötzlich kam, aber die Auswirkung oder das Entdecken der neuen Fähigkeit erst mit der Zeit einsetzte? Nun, das Ende war genau umgekehrt!
Schon des Öfteren hatte Eugen mit dem Gericht oder Untersuchungsbehören jeglicher Art zu tun gehabt. Aber in aller Regel war er mittels Kautionen immer relativ unbehelligt und glimpflich davon gekommen. Einmal beging er aber den Fehler, jetzt gerade nicht auf einer Amtsstube vorsprechen zu wollen und wählte den Weg übers direkte Geld: Er bot dem Polizisten eine hübsche Summe, wenn er ihn jetzt nicht zu Hause angetroffen hätte. Keine zwei Stunden später sass er in relativ unpassender Kleidung im Stadthof ein. Irgendwie kamen noch Feiertage zum üblichen Wochenende, so dass sich Eugen irgendwann darauf einzustellen begann, über mehrere Tage in diesem Loch zu hocken. In seiner plötzlichen Einsamkeit begann er den Spiegel zu befragen. Über dies und jenes. Sogenannt sinnige Fragen, wie etwa zu aktuellen Börsenkursen (was nützte es ihm?), unsinnige Fragen (was isst meine Ex-Frau heute Abend?), blöde Sachen – und hier traf ihn die eine Antwort wie ein Keule mitten ins Gesicht! Mehrmals! Irrtum ausgeschlossen! Trefferwahrscheinlichkeit 100 %! Irgendwie die neunzehnte Frage oder so war gewesen: „Und wer aus unserer Stadt stirbt als nächstes?“ Erahnen Sie die Antwort? Die damals noch bevorstehenden 31 Stunden waren die längsten in Eugens Leben!
