Kurzgeschichten
Max und sein neuer Name
Eigentlich sollte man von einem 29-jährigen jungen Mann schon etwas Reife verlangen können. Sicher, Spontaneität, Wutausbrüche oder irgendwie heftige Reaktionen auf etwas Neues gehört zur Tagesordnung. Und das Vokabular der heutigen Jugend ist auch nicht immer über alle Zweifel erhaben. Dass sich aber ein bald Dreissigjähriger immer noch über seinen Namen ärgerte, das war schon – sagen wir mal: aussergewöhnlich. Zumal es nicht ein fürchterlich unpassender Name war. Viele unter uns könnten mit einem „von Tobel“ schon sehr gut zu Wege kommen. Auch „Max“ ist ein nicht unseriös klingender Vorname. Was aber hier unseren jungen Mann störte, war die Kombination von beidem: „Max von Tobel, wer will schon so heissen“, stöhnte er dann.
Mit zahlreichen Amtsstellen hatte Max von Tobel schon Kontakt gehabt. Immer hiess es, dass an diesem Namen nichts Anstössiges oder Ehrverletzendes sei, auch die Schreibweise gebe nicht dazu Anlass, Missverständnissen vorzubeugen, etwa bei amtlichen Sachen oder so. Und trotzdem war es mittlerweilen schon mehr als eine Beschäftigung geworden. Eine richtige Macke.
Eine gewisse Zeit hatte sich Max angewöhnt, seinen Vornamen mit „Maximilian“ anzugeben. Das war ihm aber einmal an der Grenze zu Frankreich zum Verhängnis geworden, was ihn eine Nacht in einer Zelle gekostet hatte. Ungeheizt war das Etablissement, schlecht verpflegt wurde er, die halbe Nacht hat man ihn am Schlafen gehindert - zuerst war’s seine Einvernahme, dann der Betrunkene ihn der Zelle nebenan - und grob behandelt fühlte er sich auch. Gut, man hat sich im Nachhinein noch schriftlich entschuldigt, wenigstens halbherzig. Dass er auf dem „Maximilan“ beharrt hatte, war ihm aber deutlich unter die Nase gerieben worden.
Nun, genau solchen Episoden wollte Max von Tobel ein für allemal vorbeugen. Aus diesem Grund hatte er auch die laufende Sache gestartet. Der Aufbau des Beziehungsnetzes, das er zu missbrauchen gedachte, war zwar eine langwierige und teure Sache geworden. Mehrmals musste er Gastgeber spielen und gute Miene zum Spiel machen. Immer wieder hatte ihn die Dame hingehalten und dabei allerlei Ausflüchte gebraucht. Mal war der Chef überraschend wieder im Lande, dann waren die Formulare umgeschrieben worden, und ab und zu hatte sie seinen Wunsch auch einfach vergessen. Vielleicht ahnte sie, dass er sie fallen lassen würde, sobald er den neuen Namen amtlich hatte. Und mit ihr wohl den ganzen neuen Kollegenkreis, in den er sich – widerwillig, aber es musste sein – eingeschleust hatte. Eingekauft war wohl treffender. Er dachte an die vielen Parties, den für eine Woche gemieteten Luxus-Schlitten, die Ferienwohnung im Skigebiet. Ihn schauderte.
Aber das sollte nun bald ein Ende haben: Sie hatte ihn vorhin angerufen und aufgeregt mitgeteilt, das es heute Abend klappen könnte. Allerdings könne sie das Büro nicht verlassen, er müsse sich schon herbemühen. Aber ins Büro selber dürfe er auf keinen Fall, der Bewegungsmelder der Drehtüre würde alles registrieren. Und mit einer Besucherkarte einen normalen Geschäftsvorfall simulieren, das wagte sie sich doch nicht. Also musste Max von Tobel sich wohl oder übel noch mal in die finstere und schrecklich kalte Nacht hinausbewegen.
Viel zu pünktlich traf er am vereinbarten Treffpunkt ein: In einer stillen Gasse sollte er warten. Warten auf das vereinbarte Signal an besagtem Fenster. Dann würde sie rasch ins Parterre-Zimmer – es war ein Besprechungsraum – kommen und er konnte über der Fensterbank die nötigen Formalitäten erledigen. Sie hatte ihm eingeschärft, auf was es ankomme: Fingerabdrücke, ein Foto und drei Unterschriften. Eine ursprüngliche Unterschrift, dann diejenige zu Vergleichszwecken und schliesslich noch die letzte Unterschrift, die seinen Willen zur Namensänderung bestätigte. Amtsschimmel! Ohne Papiere geht’s wohl nie! Und damit die Fingerabdrücke einwandfrei waren, hatte er sie zu Hause ordentlich gewaschen und seither immer darauf geachtet, dass sie nicht verschmutzten. Dabei waren sie aber fast zu kleinen Eiszapfen gefroren.
Endlich, er hatte wohl gegen zwanzig Minuten in seinem Versteck gelauert, wurde der Vorhang im dritten Stock wie vereinbart bewegt. Er löste sich aus dem Halbdunkel und wartete dann vor dem Besprechungszimmer. Irgendwie kam er sich in diesem Moment sehr bedeppert vor, wie er da auf der Bank stand und auf den Fensterbank hinaufstierte. Leider war die Gasse, zu der dieses Fenster hinausführte, leicht abschüssig, so dass hier aus dem Parterre schon gut ein Hochparterre wurde. Das Fenster wurde geöffnet und sie reichte ihm zuerst die Unterschriftenseiten hin. Das war logisch, denn sonst würde er womöglich noch mit den eingefärbten Fingern die Amtspapiere beschmutzen. Also unterschrieb Max an den markierten Stellen und wollte dann sogleich die Fingerabdrücke abgeben. Da unterbrach sie ihn und raunte ihm zu, dass er noch handschriftlich seinen neuen Namen hinschreiben müsse, das sei Vorschrift. Natürlich, wieder so eine Amtstätigkeit, aber wie geheissen schrieb er trotz der klammen Finger Maximilian von Tobel hin.
Als alles erledigt war, und niemand hatte sie gestört oder beobachtet, ringsherum waren alle Bürofenster dunkel geblieben, ging Max, pardon Maximilian, gemächlichen Schrittes nach Hause. In seinem Innern brodelte es und er musste sich sehr beherrschen, nicht aus der Gasse, aus dem Quartier oder sogar der Stadt herauszulaufen. Es war geschafft! Endlich hatte er einen standesgemässen, zusammenpassenden Namen. In etwa einer Woche sollte er die neuen Papiere erhalten. Noch am gleichen Abend stellte er einen Sekt in den Kühlschrank, den er bei Eintreffen der Ausweise öffnen wollte. Nur für sich allein. Sie brauchte er dann nicht mehr; sein grösster Wunsch – wenigstens für den Moment – war erfüllt.
Wie erwartet erhielt er nach gut einer Woche die längst erwartete eingeschriebene Sendung. Gierig öffnete er den Umschlag und erfreute sich ob des neuen Ausweises. Das Bild, das er ausgesucht hatte, war ein richtig teures und daher ein sehr schöner Anblick. Maximilian von Tobel war erfreut, erleichtert, beglückt. Er holte die kühle Sektflasche und goss sich ein tolles Glas voll ein. Dann prostete er seinem Spiegelbild zu und war sich sicher, dass er derzeit der glücklichste Mensch auf der Welt sei … bis er den Ausweis von vorn beginnend systematisch durchblätterte. Das gab’s doch nicht: In Druckbuchstaben prangte sein neuer Name, nein, schrie ihn sein neuer Name direkt an M A X I M I L I A N V O N T U B E L. Das durfte nicht wahr sein, er trank sein Glas leer und füllte es erneut. Dann las er nochmals und das Resultat blieb dasselbe. Dann ging er zurück in die Küche und suchte fluchend den bereits entsorgten Umschlag hervor. Schliesslich fand er ihn (hatte er ihn vorhin so zerrissen?) und setzte die einzelnen Puzzleteile zusammen. Zwischendurch musste er das leere Glas nochmals füllen und als sich alle Schnipsel wieder vereint hatten, lachte ihm auch von dort sein neuer Name entgegen: Herr Maximilian von Tubel.
Unmöglich, dachte er, und je mehr er trank, desto blödsinniger wurde ihm die Idee, die er da gehabt hatte. „Wie soll ich nun mit diesem Namen weiter durchs Leben ziehen“, das fragte er sich in dieser Nacht unzählige Male.
Wie so oft im Leben, hatte das Schicksal auch hier ein Einsehen. Am nächsten Nachmittag wurde die Appartement-Tür aufgebrochen, weil er nicht zur Arbeit erschienen war und man sich dort Sorgen gemacht hatte. „Herzversagen nach ausserordentlichem Alkoholgenuss“ war die eindeutige Feststellung. Und nach dem üblichen Ablauf der Dinge wurde er betrauert, bestattet und nach neun Wochen konnte man an einem frischen Grab den weissen Marmorstein eines jung verstorbenen Mannes bewundern: Hier ruht Maximilian von Tubel, geboren … .
An sich könnte die Geschichte hier zu Ende sein. Doch das Schicksal bemühte sich erneut: Es sandte eine Idee an eine bereits erwähnte Dame. Die hatte in ihrer Trauer um ihren Partner – wenigstens bildete sie sich ein, sie wären irgendwie ein Paar gewesen – eine Erleuchtung. Wenn ihrem Maximilian zu Lebzeiten schon nur noch ein kurzer Moment mit seinem neuen Namen gegönnt war, so sollte er doch wenigstens bei seiner letzten Ruhestätte seinen inneren Frieden finden. Zwar gelang es ihr nicht, den Steinmetz davon zu überzeugen, entgegen der amtlichen Papiere den gewünschten Namen „Maximilian von Tobel“ in erhabenen Buchstaben auf den Grabstein zu schreiben. Immerhin liess er sich aber erweichen, für den Buchstaben „u“ einen oben schliessenden Bogen herzustellen und der leidtragenden Freundin zu übergeben.
Zusammen mit einem Freund – sie war nämlich handwerklich nicht sonderlich begabt – schlich sie sich eines finsteren Abends auf den Friedhof und nach knapp einer halben Stunde war das Werk vollbracht: Mittels zweier Stifte war der Bogen angebracht worden und aus dem Buchstaben „u“ wurde ein harmonischer „o“. Sie wähnte sich – und ihren Maximilian – glücklich und noch einige Zeit besuchte sie das Grab und war stolz, ihrem Maximilian erneut zu seinem gewünschten Namen verholfen zu haben: Hier ruht Maximilian von Tobel, geboren …
Mit der Zeit wurden die Grab-Besuche weniger, schliesslich fielen sie ganz aus, denn die besagte Dame hatte sich erneut verliebt, die Stelle gewechselt und irgendwann die Stadt verlassen. Mit der Zeit setzten auch die Jahreszeiten der Inschrift zu. Der nachträglich angebrachte Bogen fiel ab, aber die beiden Stifte blieben deutlich lesbar. Aufmerksame Besucher konnten lesen: Hier ruht, Maximilian von Tübel, geboren …
