Die kalte Barbara

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Nein, das ist keine neue Eisheilige und damit keine Ergänzung oder Erweiterung zur kalten Sophie. Auch kein Ersatz. Die kalte Barbara gehört nicht in den Kalender, sondern ins reale Leben. Zu Beginn war Barbara auch nicht eine "Kalte". Vom Aussehen her eine ganz normale, unauffällige Erscheinung. Gepflegt, durchaus hübsch, schlank und mit einem offenen, freundlichen Gesicht lief diese junge Frau durchs Leben. Intelligent war sie, die Barbara. Sie verblüffte viele und bestandene Kollegen mit einem glänzenden Fachkönnen. Gepaart mit einem nicht enden wollenden Wissensdurst brachte ihr das mit der Zeit nicht nur Freunde, sondern auch Neider. Und daraus wurde ... Nun, beginnen wir die Geschichte doch besser am Anfang.

Barbara wuchs in einer behüteten Familie zusammen mit einer älteren Schwester und einem wesentlich jüngeren Bruder auf. Die obligatorische Schulzeit absolvierte sie problemlos, die Maturität bestand sie mit ausgezeichneten Noten. Danach studierte sie irgendwo im Ausland Mathematik. Später erwarb sie in einem andern Kontinent Diplome und spezialisierte sich in Informatik. Sie war derart fasziniert von ihrem Beruf, dass es in ihrer spärlich bemessenen Freizeit fast kein Privatleben gab. Kaum ein Mann und nur wenige Frauen waren intellektuell in der Lage, mit Barbara ein entspanntes und niveaureiches Gespräch zu führen. Allgemeine Themen liebte Barbara sowieso nicht, das war ihr zu banal. Belangloses Zeugs zu schwätzen, nur damit man ein Gegenüber unterhalten konnte, das lag ihr nicht. Fesseln konnte man Barbara nur mit hochstehenden Fachdialogen. Doch Leute mit entsprechendem Hintergrund waren rar. Und zudem oftmals wesentlich älter als sie. So gewöhnte sich Barbara an ihr eigenbestimmtes und freies Leben und genoss es mit der Zeit auch entsprechend. Mit der Zeit legte sie sich den "Kältemantel" an, wie sie es nannte. Mit entsprechender Mimik und kühlem Verhalten hielt sie Leute in Schach respektive auf Distanz.

Trotz dieser Unnahbarkeit war ihr Name bald weltweit gesucht, wenn es galt, für heikle Probleme eine rasche und sichere Lösung zu finden. Oftmals waren diese Einsätze mit beschwerlichen und langen Reisen verbunden, was Barbara dazu animierte, weitere Fremdsprachen zu lernen. Das fiel ihr ebenfalls sehr leicht. Mit der Zeit - sie war nun auch schon knapp über vierzig - war sie des Reisens überdrüssig und sie sehnte sich nach einem zu Hause, wie sie es aus ihrer Kindheit kannte. Einen Ort, an dem man sich für ewig und einen Tag einrichtet, an dem man sich geborgen fühlt. Ob es regnet oder die Sonne scheint, ob ein kalt-nasser Frühling beharrlich verweilt oder ein Herbst immer noch einen neuen, warmen Tag hervorzaubert, egal, einfach ein Ort, der einem schützt, unterstützt und sich wohlig anfühlt. Ein Heim, dem man alles anvertrauen kann. Ein Haus, solide wie eine Festung und doch so schmiegsam, dass es alle Bewegungen und Dehnungen, nach denen es einem gerade zu Mute war, synchron und sanft mitmachte. Ein unerschütterliches Fundament unter den Füssen und ein stabiles, schützendes Dach über dem Kopf. Trotzdem ein zärtlicher, den Fuss geschmeidig umfassender Boden und ein Raum gebender Schirm über den Gedanken. Eng anliegend und lenkend bei Bedarf und doch im nächsten Moment kaum fühlbar in weiter Ferne. Barbara fand dieses Juwel und fühlt sich dort sehr behaglich. Endlich ein richtiges zu Hause, wo man sich so richtig kuschelig eingelullt fühlen und die Gedanken ins Unendliche schweifen konnte.

Beruflich war Barbara immer noch sehr angetan und überzeugt von ihrer Tätigkeit. Bis man ihr eines Tages aufzeigte, dass sie mit einer Führungsaufgabe ihren Horizont nochmals erweitern könnte. Ein ganzes Team von Spezialisten, weltweit gefragten Koryphäen sollte sie leiten. Gut, das war erst eine Perspektive und noch keine Zusage. Sie musste sich dem üblichen Auswahlprozedere stellen, so mit Lebenslauf, Diplomen, Referenzen und einer theoretischen Problemlösung für ein angedachtes Projekt. Barbara stellte sich dieser Herausforderung, ohne sich grosse Hoffnungen zu machen. Und das zahlte sich aus. Denn nach ein paar Wochen wurde der neue Chef vorgestellt. Es war ein Kollege des übergeordneten Zuständigen, ebenfalls eine gefragte Persönlichkeit und er konnte bereits Führungserfahrung aufweisen. Barbara haderte nicht mit dieser Situation und bald war wieder der Alltag eingekehrt. Manchmal zwickte es in ihrer Seele schon etwas. Etwa dann, wenn sie gewagte Entscheide des Chefs in lösungsorientierte Bahnen leiten musste. Aber was soll's, es war gut so. Und Barbara weiterhin gefragt. So nach dem Motto "wollen Sie den Chef sprechen oder gleich jemanden, der das Problem lösen kann?" - dieser Spruch stammte ausdrücklich nicht von ihr - war sie sehr zufrieden mit der allgemeinen Lage und der ihren im besonderen.

Die Systeme entwickelten sich weiter und natürlich auch Barbara. Auslandaufenthalte und neue Diplome standen von Zeit zu Zeit am Wegesrand. So kam es, dass Barbara ihren Bekanntenkreis und auch den Bekanntheitsgrad laufend erweiterte. Bis einer dieser Kontakte ihr ganz im Vertrauen eine neue berufliche Herausforderung zuraunte. Ohne Protokoll und ganz nebenbei bei einem Stehlunch wurde ihr zugetragen, dass sich eine Firma in ein neues Projekt begeben wolle, das benötigte Kapital stünde schon bereit. Einzig an einem fähigen Kopf, der mit Enthusiasmus und viel Verve - und Zeit und Durchhaltewillen - das Ganze führen solle, fehle es derzeit noch. Ein Headhunter sei beauftragt, genau die einzig richtige Person auf dieser Weltkugel zu finden. Ganz in Vertrauen, so unter sich, es gäbe da nur eine weibliche Hauptdarstellerin, die dafür in Frage käme, höre man sagen. Sie, Barbara, solle doch bei einer nächsten Gelegenheit mit diesem Mister unbekannt, sagen wir am nächsten  Dienstag, bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung, so zufällig ins Gespräch kommen, wurde ihr ganz im Stillen neben einem unscheinbaren Baum in irgend einem Garten zugeflüstert.

Gehört, überlegt und getan war in einem Fluss. Dieser Mister X war ein aufmerksamer,  dezenter und sehr gepflegter Mann, der nur sehr wenige, wohlüberlegte Fragen stellte. Ohne lange zu zögern bat er um eine Visitenkarte, die er beidhändig entgegennahm, bedächtig studierte und mit einem gewinnenden Lächeln sorgfältig in eine schmale, goldumrandete Silberhülle legte, die er elegant in seiner Westentasche verschwinden liess. Er werde sich bald melden, versprach er und verschwand in einem Trubel anderer Gäste. Barbara's Gesicht schmerzte nach der Ver- und Vorstellung und sie konnte wieder der Kälte Platz lassen. Sie blieb noch eine Weile, weil es doch auch ein paar Leute mit Niveau dabei hatte und verabschiedete sich kurz vor Mitternacht. Im Hotel ging sie sofort auf ihr Zimmer und schon bald schlummerte sie in eine traumlose Nacht hinein. Beim kleinen, gesunden Frühstück erhielt sie bereits den Anruf ihres gestrigen Gesprächspartners und sie vereinbarten eine Besprechung bei einem Dinner am gleichen Abend. Die gewünschten Unterlagen zu ihrem Werdegang und den Fähigkeiten hatte sie natürlich auf ihrem Smartphone griffbereit und umgehend zugestellt.

Barbara kriegte den Job nicht. Der Hauptaktionär hatte einen Sohn für die Geschäftsführung aufgedrängt und - mit den entsprechenden Zahlen unterlegt - auch durchgeboxt. Gegen den Vorschlag von Mister X. Doch dieser war mit der Lösung zufrieden und leistete sich dafür einen neuen Sportwagen.

Natürlich musste Barbara die Absage akzeptieren. Auch sie wusste, dass Geld bei der Vergabe von solchen Jobs mindestens ein Mitspracherecht hat. Das Leben geht halt gleich weiter, dachte sie kalt und schon bald war der Alltag wieder allgegenwärtig. Doch diese letzte Episode nagte etwas an ihr. Bildete sie sich ein, nur noch akzeptiert und nicht mehr geschätzt zu sein? Barbara zog sich zurück. Zuerst kaum merklich, bis es ihr schliesslich sogar selber auffiel. Was sollte sie? Was wollte sie? Irgendwann in den seltenen Ferien erstellte sie für sich eine Liste. Oder eigentlich gleich mehrere. Zuerst notierte sie die Zufriedenheiten und stellte sie den Enttäuschungen gegenüber. Das Ergebnis gefiel ihr nicht, weshalb sie die Liste in verschiedene Alterskategorien auseinanderbrach. Trügte und trübte ihr Erinnerungsvermögen das Bild, oder war früher alles besser? Sie lächelte ausnahmsweise und dachte kurz an ihren verstorbenen Grossvater. Der hatte zwar rein gar nichts von ihrer Tätigkeit verstanden, aber den Erzählungen und Schwärmereien immer sehr interessiert zugehört. Und dann allenthalben und mit zunehmend rotem Kopf von der sogenannt guten alten Zeit erzählt. Doch er gab unumwunden und freimütig zu, dass er das mit der Altersbrille wohl etwas gar farbig in seiner Erinnerung sah. War Barbara nun auch schon in diesem Fahrwasser unterwegs? Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund, um diese Gedanken in alle Ecken ihres Hauses zurück zu drängen. Eine andere Liste befasste sich mit den künftigen Plänen. Zuerst die beruflichen und dann - etwas widerwillig - auch die privaten. Rein rechnerisch war die Halbzeit der beruflichen Aktivität schon eine Weile vorbei. Wie sah ihre knapp bemessene Freizeit denn heute aus? Und wie sollte sie künftig aussehen? Dieses Blatt Papier hatte nach ein paar Stunden ausser ein paar eingefalteten Ecken keine Spur von Ergebnissen hartnäckigen Nachdenkens aufzuweisen. In ihrer Seele waren hingegen deutliche Spuren einer zunehmenden, kühlen Unzufriedenheit zu erkennen.

Die Arbeit ging weiter mit Aufs und Abs, mit Routine und Sonderfällen, mit Knacknüssen und langweiligen Aktivitäten, die einfach erledigt werden mussten. Zunehmend stellte sich Barbara dabei die drei wichtigen Grundsatzfragen. Warum gerade so? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt? Sie wurde eine etwas eigenartige ältere Dame, die auch schon mal gereizt wirkte oder sogar so reagierte. Doch ein nächstes Mal klopfte jemand unerwartet an ihre Tür, resp. an ihre Mailbox. Eine oberflächliche Beziehung aus früheren Tagen löste ein uraltes Versprechen ein. So nach dem Prinzip "Wenn du mal was hörst, vergiss mich nicht" erfuhr sie von geplanten Veränderungen in ihrer beruflichen Umgebung. Ursprünglich war ihr Wille, sich nochmals auf einen Bewerbungsmarathon einzulassen, sehr gering. Doch der Samen war in ihr gesät und irgendwann machte sie sich schlau und prüfte die Angaben auf Wahrheitsgehalt. Doch, die Gerüchte schienen zu stimmen. Es schien alles logisch und Barbara gestand sich ein, doch noch einmal etwas Neues anpacken zu wollen. So brachte sie sich ins Spiel und schliesslich in Position. Diesmal sollte es nun wirklich klappen. Alles war passend.

Aber Barbara unterschätzte ihr Alter. Und da sei da noch ihre Hauptkenntnisse aus einer Epoche, die den Zenit schon länger überschritten habe und ihr Auftritt wirke nicht sehr frisch und offen. Doch, doch, gab man ihr zu verstehen, man schätze sie sehr an ihrer Arbeit. Nur eben: hauptsächlich vor allem dort.

Barbara distanzierte sich innerlich weiter von ihrer Arbeit. Diese dritte Schlappe machte ihr sehr zu schaffen. Vor allem auch, weil die Ausmarchung gegen Schluss nicht mehr nur in vertraulichen Gesprächen stattfand, sondern sie quasi unter den Augen aller "halböffentlich" ausgetragen wurde. Transparenz nannte man das. Scheinheilig betitelte es Barbara.

Und so begann in dieser Zeit die zweite Karriere von Barbara. Eine noch kühlere und kalt berechnende Phase nahm ihren Anfang. Barbara verrichtete weiter ihre Arbeit, doch die Freude daran war wesentlich geringer. Distanziert, schon fast abweisend wirkte sie. Ihr trautes Heim gab ihr auch nicht mehr die Wärme und Geborgenheit von früher, der Garten durfte sich freier entfalten und mit ihm auch alle Gräser, Kräuter und das Gestrüpp. Was war ihre Motivation? Diese Frage hatte sich bisher nicht gestellt. Doch das Thema rückte nun in den Vordergrund und drückte öfters in ihre Gedanken. Irgendwann unterlief ihr ein Programmierfehler. Das konnte keiner merken. Aber irgendwie waren die Ergebnisse nicht mehr glaubwürdig und man beauftragte Barbara, die Ursache zu suchen. Da fand sie dann eben ihren Lapsus. Klein in der Ursache und etwas grösser in der Wirkung. Problemlos behob Barbara diese Unebenheit und man war wieder einmal sehr zufrieden mit ihr. Diese Erfahrung vergass Barbara nicht. Wie ein Kern, den man aus einer Frucht klaubt und achtlos beiseite wirft, kam es ihr vor. Dieser Kern liegt auf dem trockenen Boden. Irgendwie kommt Feuchtigkeit dazu und der Keim wird in den Boden gedrückt. Er kann Wurzeln bilden, sich verankern, spriessen und unbeachtet vor aller Augen langsam gedeihen. Ähnlich liefen die Gedanken in Barbaras Hirn ab. Nicht im Vordergrund, eher im immer gern zitierten Hinterkopf. Latent abrufbar, bei Bedarf zu aktivieren.

Das war genau dann der Fall, als Barbara im Betrieb finanziell zurückgestuft wurde. Man redete von schlechtem Geschäftsgang, Plafonierung, Bogenkarriere, auslaufenden Modellen und noch vielem mehr. Barbara schaltete ihr Gehirn bei diesem ermüdenden Gespräch schon bald einmal auf Durchzug. Was heisst da Gespräch. Es war eher ein Monolog des Vorgesetzten, bisweilen unterbrochen durch unterstützende Voten und Gesten des Personalverantwortlichen. An diesem Abend besann sich Barbara der Geschichte mit dem Programmierfehler. Am nächsten Tag besah sie sich die aktuelle Ausgangslage. Sie hatte einen Plan gefasst und den wollte sie bald umsetzen. Mit ihrem geübten Blick hatte sie die Lage rasch erfasst und wusste, wo sie ein wenig die Dinge in ihrem Sinne beeinflussen konnte. Mit kleinem Aufwand griff sie ein liess probehalber den geänderten Ablauf durchlaufen. Mit dem Ergebnis war sie zufrieden. Die Geschäftsleitung war es weniger, als die Drucksachen mit dem neuen Logo in völlig falschem Farbton hergestellt wurden. Zum Leidwesen von Barbara gelang es relativ einfach, den Weg zu ihr zurück zu verfolgen. Mit einer Ermahnung kam sie noch einmal davon und sie musste sich eingestehen, dass ihre Reaktion kindisch und überhastet war. Nur Schaden angerichtet und keinen Nutzen erbracht, war ihre sachliche Analyse. Mit der Zeit geriet dieser Zwischenfall in Vergessenheit. Allerdings spürte Barbara eine zunehmende Isolation. Ihre Kollegen arbeiteten hauptsächlich an modernen und damit andern Projekten. Das störte Barbara nicht besonders, redete sie sich - mit zunehmendem Erfolg - ein.

Irgendwann in den folgenden Monaten fand Barbara beim Aufräumen zu Hause ihre alten Listen wieder. Die Gegenüberstellungen. Erreichtes, Ziele, Pläne. Hatten sich die Ideen wirklich fast alle in Luft aufgelöst, waren zerplatzt, geschmolzen, im Boden versickert? Ernüchtert stellte sich Barbara der Tatsache, dass sie nicht mehr ihr Leben grösstenteils selber  bestimmte, sondern eher umgekehrt mehr dorthin getrieben wurde, wohin der Wind sie blies, einer Strömung folgend, die ohne ihren Einfluss talwärts führte. Doch am Ende war kein See oder der Ozean in Sicht. Nur eine grosse weite Leere. Nicht einmal Nebel war zu sehen oder spüren. Einfach nichts. Kein Licht, kein Farbton, kein Geschmack, nur leer.

Erstmals seit langem war Barbara eine Weile krankgeschrieben. Erschöpfungsdepression meinte ihre Ärztin. Von den Kollegen erhielt sie einmal Blumen zugeschickt und eine aufmunternde Karte, so dürften es wohl die Kollegen gedacht haben. Etwas blöd empfand Barbara die Karikatur.

Zurück an der Arbeit wurden ihr etwas einfachere Aufgaben zugewiesen. Das empfand sie erstaunlicherweise durchaus als positiv, was sie selber wohl am meisten erstaunte. Eine befremdliche, ungewohnte und kalte Gleichgültigkeit bereitete sich nun auch in ihr aus. Sie verrichtete ihre Arbeit und daneben war ihr alles egal. Bis sie eines Nachts eine Eingebung hatte. Mit ihrer Genialität sollte es doch möglich sein, die Programme in den Zahlungssystemen ein wenig anzupassen. Mit der Zeit entwickelte sich ein Plan und ihre Freude an der Tätigkeit kehrte etwas zurück. Sie strahlte auch wieder mehr aus, was ihre Vorgesetzten mit Erleichterung zur Kenntnis nahmen. Doch kein Sozialfall, dachten sie wohl. Oder wenigstens jetzt noch nicht, folgte in vertraulichen Gesprächen. Barbara erkannte ihre Chance und bereitete alles vor. Das von ihr anvisierte Programm wurde jährlich für wenige Stunden ausser Betrieb genommen - in der Regel nachts während des Jahreswechsels - um Neuerungen einzuspeisen. Barbara half bei den Vorbereitungen zu dieser Aktion mit und niemand konnte erkennen, dass eine zusätzliche Spezifikation eingebaut war. Am Neujahr ging die angepasste Version auf den Markt und würde nun ein Jahr lang so laufen. In den ersten Tagen und Wochen sass Barbara wie auf heissen Nadeln, doch alles ging gut. Keiner bemerkte etwas. Nun musste sie nur noch dafür besorgt sein, beim nächsten Jahreswechsel ebenfalls im Team zur Überarbeitung mit dabei zu sein. So konnte sie ihre Komponente wieder entfernen, ohne dass es jemandem auffiel. In der Zwischenzeit durfte sie die stetige Steigerung des Guthabens auf ihrem neu eingerichtete Konto bestaunen und geniessen.

Der nächste Jahreswechsel ging glatt über die Bühne und alle freuten sich, wie sehr sich Barbara für diese Arbeit interessierte und mitmachte. Fast wie in alten Zeiten, kein Lüftchen trübt die Atmosphäre, keine Wolke am Himmel; alles bestens. Umso sehr nahm man Barbaras Kündigung anfangs Februar bestürzt und erstaunt zur Kenntnis. Ihr Haus war auf den Sommer hin verkauft, alles in Bargeld umgemünzt und Barbara plante, Neues in Angriff zu nehmen. Das neue Leben - mit grossem finanziellen Polster - sollte mit einer Weltreise beginnen. Das Schiff war bestimmt, die Route gewählt und der Start fixiert. Im Geschäft war man nicht erfreut und das liess man Barbara deutlich spüren. So beschloss Barbara, der Firma ein spezielles Abschiedsgeschenk zu bescheren. Man sollte noch lange an sie denken, war ihr Leitgedanke. Es war nicht allzu schwer, einen unregelmässigen Algorithmus vorzusehen, dessen Komponenten sich in zufälligen zeitlichen Phasen und nur kurzfristig aktivierten. Hinterlegt mit nicht reproduzierbaren Zahlenfolgen und basierend auf codierten Texten aus dem immer zuverlässig und gesichert gespeicherten Geschäftsbericht. So würden in Berichten, Analysen und Veröffentlichungen systematisch Buchstaben vertauscht oder weggelassen. Barbara fürchtete die Folgen von wechselnden Zahlen, deshalb unterliess sie diesen Schritt bewusst. Neckisch, das Ganze, nicht allzu auffällig, aber nachhaltig; nachhaltig, genauso wie es von den Mitarbeitenden immer gewünscht wurde. Das würde der Firma, die weltweit tätig war, ganz schön lange und intensiv Kopfzerbrechen bescheren und wahrscheinlich den Ruf der Tadellosigkeit etwas beeinträchtigen. Barbara war mit ihrem Werk zufrieden und aktivierte es auf die übernächste monatliche Systemüberarbeitung nach ihrem Austritt.

Mit saurem Lächeln und ein paar Blumen, einige dummen Geschenken und nur halbwegs vernünftigen Wünschen wurde sie schliesslich verabschiedet. Sie liess alle in der Überzeugung zurück, nun in den vorgezogenen Ruhestand zu treten und ihr Heim so richtig auf Vordermann zu bringen. Dabei waren die Verbindungen zum bisherigen Leben bereits gekappt und die ganz andere Zukunft aufgegleist. Vernünftig liess sie alles über sich ergehen, verkniff sich ein Grinsen und behielt ihre kalte Fassade bei, als sie zum letzten Mal die Schwelle überschritt. Nicht zum Feierabend, sondern zur neuen Freiheit. Kein Blick zurück, nur nach vorne schauen.

Herrlich dieses neue Leben. Nicht gerade grenzenlos in Saus und Braus, aber doch wesentlich anders als bisher. Befreiter von Zwängen, gleich behandelt wie alle andern. Sie wusste zwar sehr wohl, dass die Freundlichkeit des Personals auf diesem Kreuzfahrtschiff abhängig war von der Höhe des Trinkgeldes. Aber wenigstens war da eine gewisse Parität, eine ausgleichende Gerechtigkeit. Notabene eine Freundlichkeit, die sie so steuern konnte. Und das machte ihr Spass, gab ihr sogar eine tiefe Genugtuung. Auch wenn alle Leute hier an Bord mit ihrem früheren Leben absolut keinen Zusammenhang hatten. Barbara genoss es einfach und liess sich auch von Kosmetikern, Verkäufern und Coiffeuren verwöhnen und beraten. Bei der Abrechnung vom letzten Einkauf stutzte sie. Nein, nicht der Betrag war falsch, aber die Abrechnung lautete auf Barbana. Was soll's, sie dachte sich nichts weiter dabei und genoss auch den nächsten, dreitägigen Landausflug in vollen Zügen.

Zurück auf dem Schiff erhielt sie die Abrechnung des Hotels auf den Namen Barnana und amüsierte sich köstlich. Beim Nachtessen bemerkte sie, dass etliche andere Gäste scheinbar ein ähnliches Problem hatten. Preter anstatt Peter, Karakathin wo es Katharina heissen sollte. Ihre Tischnachbarn waren in Prcking wohnhaft und nicht in Peking. Auch auf der Speisekarte tauchten komisch anmutende Namen von Fischen oder Gemüse auf. Aber vielleicht hiessen die wirklich so, wer weiss, was die alles neu züchten konnten. Alles in allem sorgte das für grosse Erheiterung. Niemand dachte Böses und dank gutem Wetter und amüsantem, abwechslungsreichen Programm genossen alle weiterhin die herrlichen, entspannten Tage. Weil Barbara nun schon sehr, sehr lange auf diesem Schiff zu Gast war, offerierte man ihr ein Führung, zusammen mit fünf, sechs weiteren, auserlesenen Passagieren. Gerne nahm Barbara dieses Angebot an und freute sich auf den kommenden Mittwoch. Rechtzeitig war sie parat und nahm ihren Sonder-Badge in Empfang. Beim Anheften am Pullover stellte sie erstaunt fest, dass sie nun neu Banana hiess. Langsam ärgerlich, diese zunehmende Instabilität, doch nun ging die Führung los. Von oben nach unten hiess das Motto. Erstaunlich, die Aussicht von den obersten Decks und beim höchsten Mast. Aber ringsherum nur Meer, schliesslich war man einige Tage vom nächsten Festland entfernt. Weiter liefen sie bis hinunter zu den Mannschaftskabinen. Sogar in die Kapitänskajüte durften sie rasch einen Blick werfen. Drunten im Maschinenraum herrschte eine grosse Hitze und es roch halt etwas eigenartig. Vorbei an der Küche - dort wehte ihnen ein angenehmer Duft entgegen - ging's dann noch in den Vorratsraum. Unendlich die gestapelten Kisten und Kartons in den Regalen. Alles sauber geordnet und perfekt angeschrieben. "Jedes Produkt hat seinen festen Platz, damit jeder selbständig die Waren holen kann, die er benötigt. Und perfekt codiert, damit es in allen Sprachen klappt." Das waren die Erklärungen von Jens, ihrem Führer. Im Kühlraum das gleiche Bild: Gemüse und Milchprodukte fein säuberlich eingereiht und gelagert. Exotische Sachen, Barbara vergass sich ganz. Immer wieder eine neue Entdeckung bei den Früchten und zwischendurch auch mal etwas Bekanntes. Auf einmal merkte Barbara, dass sie den Anschluss an die Gruppe verloren hatte, die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Aufgeregt lief sie in den Gängen hin und her, bis sie endlich die Eingangstüre fand. Natürlich verschlossen. Sie fröstelte. Es war ja auch ein Kühlraum. Verzweifelt klopfte sie an die Türe. Es schien sie niemand zu hören. Dann hämmerte sie dagegen und rief, so laut sie konnte. Nichts passierte. Nun wurde ihr eiskalt. Da entdeckte sie einen Monitor samt Tastatur, der wohl an einem Computer angeschlossen war. Keine schwierige Aufgabe für Barbara, diesen zu starten und sich im System anzumelden. Ein Programm befragte sie nach dem Namen. Sie gab ihn ein und erhielt zur Antwort, das sei kein bekannter Begriff. Barbara versuchte es weiter, mit Kleinschrift, Grossbuchstaben, Lücken und anderen Namen. Immer dieselbe Antwort. Schliesslich ein letzter Gedanke: Sie nahm ihren Ausweis und gab den Namen ein, der dort vermerkt war: Banana. Endlich reagierte das System ... es verwies auf das Regal C 18, drittes Tablar und gab noch an, dass diese Ware erst in drei Tagen ein Bestandteil des Desserts war.

Kurz vor dem Erfrieren erkannte Barbara den Zusammenhang zwischen ihrer letzten Programmierung für die Firma und dem, was hier ablief. Ihr letztes Lachen klang eher wie ein trockenes Bellen.

19.05.2015 - 16.05.2020 Jürg Frei