Dieter und der Lift

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Dieter war stolz. Unendlich stolz, sogar. Morgen war die Einweihung des landesweit modernsten Personenliftes. Den hatte er seinerzeit beim Stadtrat irgendwie durchgeboxt. Dann die Einsprachen in langwierigen (und teuren) Verfahren gebodigt und schliesslich auch die beiden Kommissionen überzeugt, die wegen der finanziellen Fehlkalkulation ins Leben gerufen wurden und mehrmals bei ihm vorstellig geworden waren.

Nun, das Magengeschwür und die vielen übernächtigten Sitzungen war es zwar nicht Wert gewesen, aber eben: das war jetzt vorbei und Dieter sehr, sehr stolz. Mit einem seligen Lächeln schlief er endlich ein. Aber es war kein erholsamer Schlaf, Albträume plagten ihn. War er sich auch gewohnt, wichtige Reden und das vor vielen Leuten zu halten, so stand morgen doch ein ganz besonderer Tag auf seinem Programm: Im Bahnhof durfte er als Initiant und steter Befürworter die offizielle Ansprache halten und dann den Lift einweihen. Niemand geringerer als der Bundespräsident war auch zugegen. Das gab seiner Karriere sicher wieder Auftrieb. Dieter musste nur stets darauf bedacht sein, sein sonnigstes und gewinnendstes Lächeln zu tragen. Die Pillen gegen die Magenschmerzen würden sicher auch helfen, diesen Tag gut zu überstehen.

Am nächsten Tag stand Dieter sehr früh auf. Er konnte einfach nicht mehr schlafen. So rasierte er sich gründlich, schlang ein Frühstück in sich hinein und überflog dazu die Morgenpost. Tatsächlich fand sich bereits ein Hinweis auf das bevorstehende Fest. Schade nur, dass das Wetter heute für einmal den Prognosen folgte und der Regen keine Anstalten machte, endlich seine feuchte Gabe einzustellen. Spontan beschloss Dieter, noch im Laufe des Vormittag dem Festplatz einen Besuch abzustatten. Einfach so und ohne dass ihn alle Leute erkennen konnten. Er beobachtete die vielen Arbeiter, die mit letzten Vorbereitungen beschäftigt waren. Es musste noch etliches arrangiert werden, weil man bis zuletzt gehofft hatte, gewisse Zeremonien draussen abhalten zu können. Zudem war es saukalt. Hoffentlich ergab sich das wenigstens bis zum offiziellen Festakt, heute gegen Abend.

Ohne erkennbaren Grund war Dieter nach und nach missmutiger geworden. Darum stieg er in den nächsten Bus und fuhr in ein anderes Quartier. Dort angekommen, vertrat er sich etwas die Beine. Als er ziemlich durchnässt war, schlüpfte er in irgend eine Bar und bestellte sich ein Bier. Nochmals durchlas er die Tageszeitung. Weil er sich weder jetzt noch heute Vormittag richtig konzentrierte, empfand er jeden Beitrag als Neuigkeit. Nach dem dritten Bier war das Wetter zwar nicht besser, aber die Laune von Dieter etwas heller. Er machte sich auf den Heimweg, verlief sich zweimal und hatte dann kaum mehr Zeit, ausgiebig zu duschen. Relativ pünktlich erschien er dann in Festlaune (Gin sei Dank) auf dem Festplatz, schüttelte links und rechts ein paar Hände, nahm Glückwünsche entgegen und ein paar Buhrufe zur Kenntnis. Aha, die Gegner waren also auch gekommen! Aber das war Dieter egal. Für ihn zählten heute nur die anwesenden Köpfe. Was für Gedanken sich in diesen Schädeln befanden, liess ihn völlig gleichgültig.

Nach einer schönen musikalischen Eröffnung sprach er die schon lange fertig gestellte Rede – auf seinen Texter konnte sich Dieter immer völlig verlassen – und erntete heftigen Applaus. Danach sprach der Bundespräsident, es wurden Geschenke ausgetauscht, ein paar Fotos geschossen und dann endlich der Lift erstmals für Personentransporte geöffnet. Klar, dass schon Dutzende von Fahrten stattgefunden hatten. Das ausgeklügelte System musste schliesslich mehrfach getestet werden. Und nach dem Zwischenfall mit dem Elektriker waren noch ein paar zusätzliche Fahrten notwendig geworden. Wie es dem Elektriker wohl seither ergangen war? Komisch, dass Dieter gerade jetzt an diesen Kerl denken musste. Der Fachmann war auf einer Routinefahrt einfach aus dem Lift verschwunden, erst ein paar Stunden später und völlig verwirrt wieder aus einer Baugrube aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte er den Lift an einer nicht geplanten Stelle verlassen und sich dann in der Finsternis verirrt. Auch wenn ein Ausstieg ausserhalb der vorgesehenen Haltepunkte nach mehrfacher Versicherung aller Spezialisten gar nicht möglich war.

Dieser Lift war eine einmalige Sache. Er verband nicht nur Haltepunkt in vertikaler Dimension, sondern hatte an drei Stellen sogar die Möglichkeit, horizontale Bewegungen auszuführen! Ein ausgeklügeltes Reservationssystem berechnete bei jedem Tastendruck – sei es ein eingestiegener Fahrgast im Lift oder ein Kunde, der an einem Haltepunkt den Knopf drückte – automatisch und im Bruchteil einer Sekunde die kürzeste Verbindung. Zwei dieser Horizontalpunkte waren unterirdisch angeordnet. Durch ein spezielles Mehrkammernsystem der Lifthülle merkte der Passagier von der Richtungsänderung kaum etwas. So konnte der Lift unterirdisch auf einem Schienensystem sogar Kurven bewältigen.

Zusammen mit dem Bundespräsidenten, zwei Ehrendamen und ein paar Fotografen stieg Dieter in den Lift. Trotzdem war es nicht zu eng, weil das Volumen für insgesamt 18 Personen berechnet war. Sie fuhren zuerst einfach ganz nach oben und stiegen auf der Terrasse aus. Der Aufenthalt dauerte nur kurz, weil es immer noch regnete und sich die Temperatur seit dem Vormittag kaum erhöht hatte. Die Fotografen schossen ein paar Bilder, man schüttelte sich nochmals die Hand und stieg dann wieder in den Lift. Die Techniker hatten dafür gesorgt, dass das Gefährt heute ausschliesslich von innen bedient werden konnte. Damit waren ausgeschlossen, dass ihnen jemand den Lift weggeschnappte. Sie fuhren senkrecht nach unten und folgten dann den Anweisungen der Regie, indem sie im Untergrund die waagrechte Verbindung zu den Zugperrons nahmen. Na ja, es ruckelte doch etwas mehr, als die Ingenieure versprochen hatten, als der Lift seine Richtung änderte. Man sah aber geflissentlich darüber hinweg und stand schon bald einem Blitzlichtgewitter von Fotografen auf dem Perron gegenüber. Wieder ein paar zeremonielle Handlungen dort, dann stieg man wieder ein und wählte den Endpunkt der Reise: Das Einkaufszentrum. Diese Verbindung war die teuerste Sache am ganzen Projekt gewesen. Man musste die Strasse unterqueren, etlichen Strom-, Gas und anderen Verbindungen ausweichen (oder diese verschieben) und in einer halben Schlaufe dann von quer unten ins Einkaufszentrum einfahren. Traumhaft leise legte das Gefährt auch diese Reise zurück. Die Vibrationen waren hingegen sehr unangenehm. Dieter erklärte dem Bundespräsidenten, dass die Sicherheit der Gäste in jeder Beziehung und zu jeder Zeit gewährleistet sei, man hingegen noch etwas Stabilisierungsarbeiten zu verrichten habe. Endlich war auch diese Fahrt zu Ende und man ging nach dem Aussteigen zum Aperitif über.

Viele, viele Stunden später sank Dieter völlig erschöpft zu Bett. Dieser Tag hatte ihn doch wesentlich mehr angestrengt, als er sich zuvor auch in den schlimmsten Gedanken vorgestellt hatte. Dazu diese zunehmenden Beschwerden mit dem Magen. Nur gut, gab es diese Tabletten, die ihm auch heute wieder geholfen hatten. Leider war die Mischung von Tabletten und Alkohol wiederum nicht sehr gut für die Nachtruhe. Öfters wachte er auf und drehte sich mehrmals in seinem Bett. Dabei kehrten die Gedanken immer wieder zum verflossenen Tag zurück. Weniger die Pressefritzen oder die zu erwartenden Bilder waren seine Sorgen. Aber es hatte ihm geschienen, als hätte die nicht ganz reibungslose Jungfernfahrt schlimmer ausgewirkt, als es ihm auf den bisherigen Probefahrten vorgekommen war. Waren sie im Lift zu viele Leute gewesen? Hatte der Untergrund wieder nachgegeben? Oder hatte er sich schlicht zu sehr darauf konzentriert?

Er beschloss, gleich nächste Woche erneut Vermessungsfahrten vornehmen zu lassen. Mit diesem letzten Gedanken glitt Dieter dann doch in einen etwas tieferen Schlaf.

Niemand schien verwundert, dass am kommenden Tag der neue Lift wiederum nicht fürs Publikum geöffnet war. Man kannte das von früheren Projekten her. Wegen Zeitdruck wurde manchmal die publikumswirksame Einweihung Wochen oder gar Monate vor der offiziellen Freigabe durchgeführt.

Mehr als beiläufig geäusserten Wunsch denn als klaren Auftrag konnte Dieter gegen Ende der folgenden Woche eine kleine Equipe damit beauftragen, nochmals Messfahrten durchzuführen. „Zur Stabilisierung der Werte nach mehreren Belastungsfahrten“, wie er sich ausdrückte. Die moderne Technologie machte es möglich, dass Dieter innert weniger Stunden die Messergebnisse auf seinem Pult hatten. Schlechte Daten, genau wie er erwartet hatte. Lediglich die geringen Geräuschwerte waren die einzigen positiven Punkte im ganzen Bericht. Die Vibrationen waren stärker als nach allen bisherigen Korrekturen. Sogar die Geschwindigkeit hatte man deswegen gedrosselt. An der tiefsten Stelle der Strassen-Unterquerungen war zudem eine Unregelmässigkeit im Untergrund festgestellt worden; wahrscheinlich hatte sich der Boden nochmals gesenkt. Diese Senkung konnte man mit zusätzlichen Massnahmen, wie etwas stärkere Wasserpumpen und nochmals ein paar Tonnen Beton und Stahl sicher in den Griff kriegen. Dieter musste wohl oder übel in den sauren Apfel beissen und nochmals einen Nachtragskredit dafür beanspruchen. Die Vibrationen liessen sich hingegen nicht erklären. Darum hatte Dieter hier auch keine landläufige Massnahme parat.

Rascher als erwartet genehmigt der Rat den nötigen finanziellen Nachschuss. Der gute Jahresabschluss mit den stillen Reserven und das bevorstehende Wahljahr hatten dem Projekt in dieser Phase für einmal keine Seitenhiebe verpasst. Genau so rasch wurden auch die Baumassnahmen umgesetzt. Die umgehend durchgeführten Messfahrten brachten endlich die erhofften stabilen Werte. Aber die Vibrationen blieben. Zusammen mit Statikern, Baufachleuten und weiteren Experten beriet man das Problem. Einer völligen Neuberechnung stand der gesamte Rat geschlossen entgegen. Aus dem beschlossenen Massnahmenpaket wurde schliesslich die billigste Massnahme sofort umgesetzt: Durch eine Steigerung der Geschwindigkeit erhoffte man sich eine Stabilisierung der Lage und gegenseitige Neutralisierung aller Einflüsse. Schliesslich – und dieses Argument hatte dann auch den letzten Skeptiker überzeugt – war der Lift ja tatsächlich für eine höhere Geschwindigkeit konzipiert worden.

In aller Heimlichkeit und relativ frühmorgens fand dann die erste Fahrt mit der wieder gesteigerten Geschwindigkeit statt. Man hatte sogar daran gedacht, sich mit leichten Steigerungen langsam an einen möglicherweise irgendwo liegenden optimalen Punkt heranzutasten. Anfänglich ging die Überlegung auf: zwei Sequenzen vor der ursprünglich berechneten optimalen Durchlaufzeit verringerten sich die Vibrationen spürbar. Doch schon die nächste Fahrt liess den Fahrstuhl deutlicher als je erzittern. Darum ging man wieder auf die vorherigen Geschwindigkeit zurück. Doch aus der erhofften ruhigen Fahrt wurde nichts. Die Schwingungen waren „ziemlich heftig“, wie es im Bericht dann hiess. Die Versuche wurden kurz darauf abgebrochen.

Natürlich besass Dieter einen Generalschlüssel zum ganzen Areal und Zutritt auch zu diesem blöden Lift. Irgendwie musste man doch das Schwingungsproblem in den Griff kriegen können! Ellenlange Telefongespräche um die halbe Welt und etliche Hundert Internet-Zugriffe brachten aber keine Lösung. Das Problem war andernorts schlicht unbekannt. Auch eine flugs eingesetzte neue Equipe von Fachleuten vor Ort brachte keine neuen Erkenntnisse. So wurde denn der bereits im Bau befindliche Sicherheitstunnel rasch vorangetrieben und zudem im Bereich der Vibrationen eine weitere Zugangstüre eingebaut. Dieter konnte in der Zwischenzeit ohne seine Tabletten nicht mehr auskommen. Sein Hausarzt hatte eine Operation oder eine Erholungskur schon vor langer, langer Zeit vorgeschlagen. Aber Dieter verweigerte sich beharrlich. Schliesslich wechselte er den Arzt, weil er die Gespräche um seine Gesundheit in dieser Form nicht mehr aushielt.

Der Unmut der Bevölkerung wuchs in dieser Zeit. Die Opposition liess keine Gelegenheit aus, um auf die immensen Ausgaben ohne erkennbaren Nutzen hinzuweisen. Dieser Druck auf den Stadtrat gab dieser ungeschmälert an Dieter weiter. In dieser Zeit hatte Dieter – wen verwundert das – öfters schlecht geschlafen und immer wieder Alpträume. Der seinerzeit kurzfristig verschwundene Elektriker kam dabei in jedem dieser furchtbaren Kurzfilme vor. So vertiefte sich Dieter eines Tages wieder in die Befragungsprotokolle, die er von den Untersuchungsbehörden und vom Krankenhaus angefordert und nie zurück gegeben hatte. Die ursprüngliche Aussage des Fachmannes war hier von besonderem Interesse und nicht die dann eidesstattlich unterzeichnete Erklärung. Diese war erst nach der stationären Therapie zustande gekommen. Der Elektriker hatte ursprünglich ausgesagt, dass der Fahrstuhl mitten in einer Fahrt und an völlig unlogischer Stelle angehalten habe. Nein, das Licht sei nicht ausgefallen, die Fahrgastzelle sei mit Strom versorgt gewesen. Darum habe sich auch die Türe öffnen lassen, obschon kein Sicherheits-Impuls das Vorhandensein einer Gegentüre (also eines Ein- und Ausganges) angezeigt und die Sperre aufgehoben hätte. Für ihn völlig erstaunlich sei ein beleuchteter Gang erschienen, den er betreten habe. Er hätte in einem unterirdischen Labyrinth Gnome, Zwerge und allerlei Lebewesen getroffen, mit ihnen geschwatzt und eine Botschaft entgegengenommen, an die er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Nach langem Fussmarsch sei er plötzlich wieder aus einer Baugrube aufgetaucht, wurde berichtet.

Wieder und wieder las Dieter diesen Bericht. Das widersprach völlig den geologischen Gutachten, die von felsigem, kompaktem Untergrund berichteten. Dort gab es mit Sicherheit kein Höhlensystem. Und schon gar keine Fabelwesen. Schliesslich hatte der Elektriker dann doch zugegeben, sich wahrscheinlich geirrt zu haben. Überarbeitet und im Zusammenhang mit Alkohol wurde dann der Zwischenfall erklärt. „Was wäre, wenn“ sinnierte Dieter vor sich hin, war aber mit seinen Schlussfolgerungen alles andere als glücklich und zufrieden. Schliesslich löst sich Dieter aus dieser Geschichte, er hatte ganz reale Probleme zu lösen.

Nach definitiver Regulierung der gültigen Geschwindigkeiten – sie waren neu unterschiedlich definiert für den vertikalen und den horizontalen Betrieb – wurden die Fahrgastzellen farblich frisch gestaltet, ein Spiegel montiert, die Aussen- und Innentüren anders lackiert und in einer kleinen Zeremonie das Produkt definitiv dem Alltagsgebrauch überlassen. Im Stadtrat war nur noch ein kleines Wortgeplänkel an einer ordentlichen Sitzung zu überstehen und dann sprach niemand mehr von diesem Lift.

Dieter wäre froh gewesen, wenn diese Zeit wesentlich länger gedauert hätte, als sie es tat. Nur rund drei Monate später wurde er in seinem Büro von der Polizei besucht. Ein Inspektor ermittelte in einer Vermisstensache. Das war an sich nichts Aussergewöhnliches. Aber es waren – wie man ihm schonend beibrachte – vier Personen, die allesamt in derselben Stunde verschwunden waren. Vier Personen, die miteinander kaum etwas zu tun hatten, wenn man davon absieht, dass zwei davon in der gleichen Firma arbeiteten. Eine Dame, alleinstehend, sehr gepflegt, knapp 50-jährig auf einem Einkaufsbummel. Ein Oberschüler mit zwei Geschwister, bei der alleinerziehenden Mutter lebend und mit eher unterdurchschnittlichen Schulnoten auf dem Weg in die Nachhilfestunde. Und dann eben die zwei Kollegen, Familienväter, der eine davon bereits Opa, beide auf dem Nachhauseweg, aber schon nach dem Feierabendbier.

Diese vier Personen wurden also allesamt im Laufe von 12 Stunden als vermisst gemeldet. Die üblichen Abklärungen ergaben eine sehr enge zeitliche Begrenzung von etwa einer halben Stunde, innert welcher diese Vier letztmals „lebend“ – allein schon dieses Wort! – gesehen wurden. Das habe sich vor genau drei Tagen abgespielt. Die Befragungen haben des weitern ergeben, dass – hier wurde der Beamte auf einmal sehr ernst und „beamtenhaft“ und der mitgeschleppte Stenografist rückte auf seinem Stuhl ganz an die vordere Kante – die vier Personen im Kaufhaus letztmals gesehen wurden. Der logischste Weg für alle zwecks Erreichung des geplanten Zieles wäre dann die Benutzung des neuen Liftes gewesen. Ob an besagtem Datum und zur vorerwähnten Zeit eine technische Störung aktenkundig sei?

Noch bevor Dieter irgend welche klare Gedanken aneinander reihen konnte, gab der Beamte bereits Antwort: Ja, der Lift sei für rund 15 Minuten für niemanden erreichbar gewesen. Das hätten ihm die Zuständigen auf Grund von Reklamationen der Bevölkerung bereits verbindlich bestätigen können. Was also, so wurde Dieter konkret gefragt, was also hat sich genau dann und genau dort abgespielt?

Mit einem sachten Hinweis auf persönliche Probleme eines Jeden der Betroffenen und dadurch natürlich erklärbaren Untertauchens biss Dieter auf Granit. Auch der Hinweis, man müsse vielleicht etwas zuwarten, dann tauchten die vier ja eventuell wieder auf, und die dann noch geäusserte Vermutung, dass diese vier doch vielleicht etwas miteinander zu tun hätten, das aber erst in der Zukunft ... möglicherweise eine Bank ... trug ihm nur böse Blicke ein.

Dieter gab auf. Mit gewaltigen Worten und durch heftige Gesten unterstützt erklärte er schliesslich, dass er bisher von diesem Vorfall und dem ungeheuerlichen, versteckten Vorwurf noch nichts vernommen habe. Er werde sich der Sache sofort und persönlich annehmen und keine Kosten und Mühen scheuen, rasch und endgültig die Unschuld aller zu beweisen, auf die da nun mit dem Finger gezeigt würde. Jaja, einmal sei die Sache mit dem neuen Lift nicht erwartungsgemäss gelaufen. Aber jetzt sei alles in Ordnung und keiner habe sich etwas zu schulden kommen lassen. Nach der heftigen Tirade war Dieter wieder ganz Herr seiner selber und völlig in seinem Element. Der nun wieder sehr umgängliche Polizist erklärte, kurz bevor er ging, etwas von Missverständnis, keiner Anschuldigung und aktiver Partizipation an der Aufklärung eines sehr ungewöhnlichen Zufalles.

Hinterher war Dieter gar nicht wohl bei der Sache. Hatte er zu dick aufgetragen? Brachte ihm das im Laufe der Untersuchungen womöglich Nachteile ein? Er beschloss, gleich am nächsten Tag seine aktive und persönliche Mitwirkung zu unterstreichen und den Beamten in seiner Schreibstube zu besuchen.

Später als üblich machte Dieter Feierabend und ging zu Fuss nach Hause. Eher unbewusst als absichtlich wählte er den Weg über das Kaufhaus. Dort erinnerte er sich an die rüttelnde Fahrt mit dem Bundespräsidenten, die lieben Worte aber auch an die jüngste Geschichte und so benutzte er gerade absichtlich den ominösen Lift, „seinen“ Lift.

Am nächsten Tag wurde in der Zeitung vom Verschwinden von vier Personen aus der Stadt berichtet, die alle plötzlichen wieder aufgetaucht sind. Auf Grund schlechter psychischer Verfassung seien sie derzeit nicht vernehmungsfähig und hospitalisiert. Zwei Tage später wurde an derselben Stelle geschrieben, dass ein stadtbekannter Mann, dem man den neuen Lift zu verdanken habe, ebenfalls verschwunden sei. Doch von seinem Auftauchen konnte nie berichtet werden.

30.05.2006 - 18.04.2020 / Jürg Frei